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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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trat einen Schritt nach vorn, wie um die Arme auszubreiten und einen herauseilenden Paolo aufzufangen. Ich blieb in der Mitte der Gasse stehen, das Barett im Arm wie ein totes Tier, dessen Tod eine persönliche Katastrophe war.
    Eine kleine Gestalt stürzte aus dem Haus. Kleiner als Mojzesz Fiszel (viel kleiner), aber größer und kompakter gebaut als Paolo. Die Gestalt rannte mit hocherhobenen Armen heraus in das helle Sonnenlicht, das in die Gasse fiel und das sie noch einmal so leer und verlassen aussehen ließ, wie sie in Wirklichkeit war. Ich hörte das Schreien, das wie ein übles Echo des Geheuls vom Marktplatz war: »Hiiiiiiiihiiiiiiiihiiiiiiih!« Daniel prallte zurück. Die Gestalt stolperte in die Mitte der Gasse, ohne uns zu sehen, drehte sich einmal um sich selbst, die Arme zum Himmel erhoben und die Finger in die Höhe gereckt, als versuche sie, etwas aus den Lüften herunterzureißen. Dann fiel sie auf die Knie, schrumpelte förmlich in sich zusammen, der Oberkörper sackte nach vorn, ihre Arme breiteten sich seitlich aus, und mit der Stirn und den nach oben offenen Handflächen auf dem Boden hörte sie ihr Schreien auf und begann stattdessen laut zu stöhnen.
    Ich bewegte mich mit Beinen aus Holz auf sie zu und ging neben ihr in die Knie. Daniel trat auf ihre andere Seite und sah mit weiten Augen auf sie hinunter. Ich packte die Gestalt an den Schultern und drehte sie herum. Ihr Entsetzen machte sie schwer wie einen Toten, und mein eigener Schreck lähmte mich, doch sie leistete keinen Widerstand, und ich konnte sie halb aufrichten und in den Arm nehmen. Der Schmutz des Gassenbodens hatte sich mit ihren Tränen vermischt und ihr Gesicht mit grauen Streifen überzogen. Sie starrte mich blind an.
    »Rebecca«, sagte ich mit tauben Lippen.
    »O mein Gott«, sagte Daniel.
    Ich flüsterte: »Rebecca, was ist passiert?«
    Sie schlug die Hände vor das Gesicht und heulte: »Mojzesz, mein Mojzesz, o mein Mojzesz …!«
    »Paolo«, hörte ich mich sagen. »Ist Paolo bei euch?«
    »O mein Mojzesz …!«
    »Was ist mit ihm? Rebecca!« Ich schüttelte sie. Daniel sah sich hektisch um. Unter normalen Umständen wäre das halbe Judenviertel bei diesen Klagelauten zusammengelaufen. Doch wir standen allein in der Gasse. Was immer die Umstände waren, sie waren so, dass nicht einmal Mitleid mit der Frau eines ihrer angesehensten Mitglieder die Bewohner der Judengasse ihre Angst überwinden ließ. »Was ist mit Mojzesz? Und mit Paolo?«
    »Mein Mojzesz, mein Armer …«
    »Rebecca!«
    Sie sah mich an, mit nur einem Funken Erkennen in den Augen.
    »Sie haben ihn … sie haben ihn …«
    »Heiliger Sebastian«, flüsterte Daniel und warf einen entsetzten Blick zur offenen Tür.
    »… sie haben ihn mitgenommen … die Wachen … sie haben ihn mitgenooooooommen …!«
    »Keine Bewachung«, sagte Daniel. Ich schüttelte den Kopf.
    »Nein, keine Bewachung.« Ich drückte Rebecca an mich. Ihr Herzschlag war noch über meinem eigenen spürbar.
    »Während wir außenrum gelaufen sind, haben sie deinen Freund abgeholt. Und was ist mit Paolo?«
    Ich versuchte, zu Mojzesz’ Frau durchzudringen. »Rebecca, was ist mit Paolo?« Ich schüttelte sie sanft. »Paolo … weißt du, wo der Kleine ist?«
    Ihr Blick wurde klarer, und plötzlich weiteten sich ihre Augen, als habe sie mich jetzt erst wahrgenommen. Ich wusste, was sie sagen würde, noch bevor sie es herausbrachte.
    Paolo war nie bis zu Mojzesz Fiszels Haus durchgekommen.

    »Wir müssen sie von der Straße wegbringen«, sagte ich zu Daniel und versuchte, Rebecca in die Höhe zu ziehen.
    »Sollten wir uns nicht lieber …« Daniel blickte in meinGesicht und verstummte. Mir war klar, dass er die nackte Panik darin gesehen hatte. Ich war Rebecca fast dankbar dafür, dass ihre Sinne sie so im Stich gelassen hatten; wenn ich mich nicht um sie hätte kümmern müssen, wäre ich vermutlich wie ein Irrer in der Stadt herumgelaufen und bei der Suche nach Paolo von keinem Nutzen gewesen. Es war auch so schwer genug, die schluchzende Frau nicht einfach sich selbst zu überlassen und mich stattdessen ins Gewühl auf dem Marktplatz zu werfen, laut nach meinem Sohn brüllend. Paolo war entweder bereits wieder zu Hause, dann war alles Sorgen umsonst, oder er war noch immer irgendwo in dem Hexenkessel, zu dem Avellinos Anhänger und die Dummheit des Rates die Stadt gemacht hatten – dann mussten wir planmäßig vorgehen.
    Welchen Plan?, schrie etwas in mir, das ich krampfhaft zu

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