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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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abzubiegen und sah mich fragend an, aber ich schüttelte den Kopf und deutete schräg nach vorn. »In die Slawkowska-Gasse!«
    Schon ein paar Dutzend Schritte die Gasse hinein waren wir allein. Wenn das Meeresrauschen nicht gewesen wäre, das in Wirklichkeit das Geschrei der Menge vor dem Rathausturm war, hätte man die Gasse ruhig nennen können. Meine Füße brannten bis zu den Knien herauf, und mein Herz wirbelte in meiner Brust. Ich lief noch ein paar Schritte weiter, dann blieb ich stehen, beugte mich nach vorn und stützte mich mit den Händen auf die Knie. Ich holte Atem wie ein Ertrinkender. In der Peripherie meines Gesichtsfelds schwammen schwarze Punkte.
    »Jetzt weiß ich, wie es geschehen kann, dass sich eine ganze Stadt einem Pogrom hingibt«, sagte Daniel und keuchte ebenfalls.
    Ich sah ihn von unten herauf an, ohne etwas zu sagen. Zu der Atemnot und den Herzbeschwerden kam jetzt auch noch Seitenstechen. Ich versuchte mich aufzurichten und krümmte mich, als das Seitenstechen meine ganze linke Körperseite verkrampfte. Ich spürte Daniels Hand auf meinem Oberarm.
    »Vater, geht’s dir gut?«
    »Der Tag heute ist ein Jungbrunnen«, ächzte ich. Ich stellte fest, dass wir irgendwann zwischen der Entdeckung, dass Paolo in den Irrsinn hineingerannt war und gerade eben die Grenze der Förmlichkeit zwischen Vater und Sohn überwunden hatten; und ich freute mich darüber und wusste, dass wir es ohne diese Situation nicht geschafft hätten. Gleichzeitig hätte ich alles darum gegeben, nicht in dieser Situation zu sein. Paolo … wenner es nicht bis zu Mojzesz geschafft hatte …? Ich sah seine dunklen Augen und sein stets fragendes Gesicht vor mir und merkte, dass die Panik sich anschickte, das Kommando zu übernehmen. Ich streckte mich und stöhnte vor Schmerz. Der Gedanke, mich wieder bewegen zu müssen, machte mich schwach.
    »Wenn Paolo nicht an den Wachen in der Gasse vorbeigekommen ist, dann musste er über den Platz …«, sagte Daniel.
    Ich nickte. Er stieß mit dem Fuß gegen den Boden. »Wohin jetzt?«
    »Wir biegen bei der Markuskirche nach links ab und machen durch das Schusterviertel einen Bogen zurück zur Judengasse.«
    »Also los!«
    Wir hörten schnelle Schritte von der Gassenmündung her und drehten uns um. Einen Augenblick lang hoffte ich, dass es Jana war, die unterwegs auf Friedrich von Rechberg gestoßen war und uns nun zu Hilfe eilte, aber es war nur eine Frau mittleren Alters, die auf uns zulief, ohne uns zu sehen. Sie war barhäuptig und zerzaust, ihre Nase war blutig und über ihre Stirn zogen sich vier tiefe, ebenfalls blutige Rinnen, in die die Fingernägel einer Hand gepasst hätten. Das Oberteil ihres Gewandes war so zerrissen, dass man das Hemd darunter sehen konnte. Sie sah aus, als habe sie versucht, eine Gasse in dem Augenblick zu überqueren, als eine Horde Berittener dahergesprengt kam. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr Blick nicht von dieser Welt. In einer Hand wehte etwas, eine lange, weiße Fahne – ein Fetzen von Julius Avellinos Leichentuch, eine blutig erkämpfte Trophäe. Wir traten beiseite, und sie stolperte an uns vorbei und setzte ihren Weg in Richtung Markuskirche fort.
    »Ich schätze, von dem Burschen bleibt nicht mal genug übrig, um einen Reliquienschrein zu füllen«, sagte Daniel.
    »Der Rat hätte ihn gleich an die Schweine verfüttern sollen«, erwiderte ich und sah das Erstaunen in Daniels Gesicht über den Hass in meinem Worten. Ich wusste selbst nicht, wie er so plötzlich emporgeschossen war. Vielleicht hatte ich die hasserfüllteLuft auf dem Marktplatz zu lange eingeatmet. Mein Herz klopfte immer noch wild, und meine Beinmuskeln zitterten; dennoch: Wir hatten schon viel zu lange gerastet.
    Ich setzte mich in Bewegung und lief der Frau mit dem Leichentuchfetzen in der Hand hinterher, die mittlerweile in eine Seitengasse oder in einen Hauseingang abgebogen war. Morgen, wenn der Wahn sie wieder verlassen und die Ekstase sich in Scham verwandelt hatte, würde sie sich fragen, woher die Verletzungen stammten und welcher Teufel sie geritten hatte, den widerlichen Fetzen an sich zu nehmen. Die Markuskirche schob ihre Apsis mit dem plump angebauten Ecktürmchen der Sakristei in die Gasse herein. Ich wandte mich nach links in das Gewirr der Häuser und Häuschen, Obstgärten und Gemüsefelder hinein, von dem ich hoffte, dass es uns einen Durchschlupf zur Judengasse und damit zu meinem jüngsten Sohn ermöglichen würde.

    Zwischen der Synagoge und

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