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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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hatte, und mir wurde klar, warum er über das Maß, das man angesichts der Entwicklung der Dinge von ihm erwarten konnte, angespannt war. Der Mann war Joseph ben Lemel. Er gab meinen Blick mit zitternden Lippen zurück.
    »Zuerst mein Sohn, und jetzt Mojzesz«, stieß er hervor. »Es sind die Unschuldigen, die am meisten zu leiden haben.«
    Ich hatte eine Vorstellung von der Komödie, die sich in den letzten Stunden hier abgespielt hatte, untermalt – kontrapunktiert – vom Geschrei des Mobs unten auf dem Platz: Gebt-ihn-frei! und Avellino-Avellino! und Hiiiihiiiihiiiih! Joseph ben Lemel, keineswegs aus der Stadt geflohen, schlug sich zum Rathausturm durch und versuchte, die Männer dort davon zu überzeugen, dass sein Sohn
    das Licht der jüdischen Gemeinde
    der begnadete Erbe des Talents von Veit Stoß
    der arme, hintergangene Bursche mit den Manieren einer Bergziege
    der Sodomit?
    in Wahrheit unschuldig und hereingelegt worden war, und dass man ihn zwar auf einem lautstark um Hilfe rufenden jungen Mädchen gefunden hatte, dass tatsächlich aber alles ganz anders war und die ganze Welt einem grandiosen Missverständnis unterlag.
    Und dass dies alles nicht der Fall wäre, wäre Samuel nicht zufällig jüdischen Glaubens.
    Unter den Zuhörern: der Vater des Mädchens, das Samuel allem Anschein nach vergewaltigt hatte und dessen bisher einzige Berührung mit dem Vater des Vergewaltigers über einen von beiden Seiten verachteten Mittelsmann (meine Wenigkeit) gewesen war, mit dem er über die Höhe des Schandgeldes verhandelte, um den Vorfall unter der Decke zu halten.
    Ich hatte kein Mitleid mit Laurenz Weigel, aber ich konnte ihn fast verstehen.
    »Reb Bernward«, sagte ben Lemel. »Sehen Sie denn immer noch nicht, was hier passiert? Jetzt haben sie Mojzesz geholt, weil sie Samuel nicht kriegen konnten.«
    Hatten die Kameraden Samuels Recht? Oder wollten sie ihm mit ihrem Getuschel schaden? Wenn ihr Verdacht zutraf und sie – oder jemand anderer – ihn offenbarten, würde das Samuel womöglich davor retten, in heißem Öl zu Tode gesotten zu werden. Natürlich würde es ihn andererseits auf den Scheiterhaufen bringen.
    »Sie hätten die Stadt zusammen mit Ihrer Familie verlassen sollen«, sagte ich und wandte mich ab.
    Der Bürgermeister war der ganzen Szene mit ausdruckslosem Gesicht gefolgt. Jetzt musterte er mich von neuem.
    »Ist das alles, was Sie hier wollten?«, fragte er.
    »Nein«, sagte ich. »Eigentlich wollte ich Sie um Hilfe bitten.«

    Während ich im Rathausturm auf meine ganz eigene Weise versuchte, die Unterstützung des deutschen Patriziats von Krakau zu gewinnen, traf ein Botschafter im Judenviertel ein. Der Mann hatte eine Nachricht dabei, die einen gewissen kleinen Jungen betraf. Er wusste, dass er sie so schnell wie möglich abzuliefern hatte, aber er wusste nicht recht, wohin er sich wenden sollte. Die ihm die Nachricht aufgegeben hatten, hatten vorausgesetzt,dass er sein Ziel kannte; schließlich entschloss er sich dazu, sie dort an den Mann zu bringen, wo der Junge eingefangen worden war. Zu seiner Überraschung war die Tür des Hauses offen und das Haus leer. Er lief laut rufend durch alle Räume und stand zuletzt wieder in der Gasse. Die Gasse schien zu einer anderen Stadt zu gehören, in der es keine Bewohner gab. Der Bote blickte sich ratlos um. Er fühlte Dutzende Augen auf sich gerichtet, aber wenn er an den Hausfassaden hochblickte, entdeckte er niemanden. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinab. Er hatte das Gefühl, auf einem Friedhof zu stehen.
    »He!«, schrie er zu den dunklen Fensteröffnungen empor. »Ich suche Rebecca Fiszel!«
    Die Fenster antworteten ihm nicht. Fluchend zuckte er mit den Schultern und kehrte in das leere Haus zurück. In einem Raum, den er für die Stube des Hauses hielt, legte er das hastig bekritztelte Stück Pergament, das die Wahrheit seiner Botschaft hatte beweisen sollen, auf den Tisch. Er sah eines jener merkwürdigen runden Käppchen, das die Juden auf ihren Hinterköpfen zu tragen pflegten, als sei es dort angewachsen, zerknautscht auf dem Boden liegen, hob es auf und stülpte es über das Pergament, damit keine plötzliche Zugluft es davonwehen konnte. Dann stapfte er davon. Dass er seine Nachricht nicht persönlich losgeworden war, würden seine Auftraggeber nicht wohlwollend aufnehmen. Er beschloss, sich mit dem Rückweg Zeit zu lassen.
    In einem Haus ein paar Schritte weiter nach der offenen Tür wandte sich ein kleiner Mann mit einer zu

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