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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Leere kreiste und schien von dem Gebrüll, das vorhin noch davon aufgestiegen war, zu hallen. Ein paar zerfetzte Bahnen missfarbenen Leinens zitterten im Wind oder wälzten sich träge um sich selbst; Souvenirs, die doch niemand mehr aufgehoben hatte (vielleicht, weil er ein kostbareres Stück vom kostbarsten Leichnam des Jahres ergattert hatte?). Der Himmel hing tiefblau und unschuldig über dem Platz, den die Schatten der westlichen Häuserfront langsam aufzufressen schienen.
    Ich drehte mich einmal um mich selbst. Ich war der einzige Mensch, der mitten auf der freien Fläche stand. Vor den Häusern an der Front des Platzes standen ein paar von ihren Bewohnern und gafften herüber, aber für den Augenblick war ich völlig allein auf dem Platz. Mein Schatten war lang. Eine kurze Leinenbahn rollte durch ihn hindurch, verfärbte sich für die Dauer eines Augenzwinkerns dunkel und leuchtete wieder golden auf, als sie drüben zurück ins späte Sonnenlicht gelangte.
    Heute Nacht.
    Entweder brannten die Häuser der Juden oder die der Deutschen. Welche es auch immer waren, die Chance war groß, dass sie die halbe Stadt mit in Flammen aufgehen lassen würden.
    Die indifferente Gewalt des Meeres tötete mit Wasser. Der irre Hass auf alles, was anders zu sein schien, tötete mit Feuer. Die Sturmflut, von der der alte Seebär erzählt hatte, hatte ein Dutzend Menschen auf dem Gewissen; der Feuersturm, der sich in Krakaus Gassen sammelte, würde sich mit dieser Zahl nicht zufrieden geben.
    Ich hatte in Wahrheit keine Zeit mehr.

    Ich gelangte bis in die Herrenstube des Rathauses, ohne dass jemand mich aufgehalten hätte. Ich empfand das unbewachte, scheinbar leere Rathaus als den bisher unwirklichsten Teil meiner Mission, noch merkwürdiger als den Anblick der verschlossenen Judengasse, in deren Mitte Rebecca Fiszel wie ein HäufleinKleider lag und ihre Angst in die Gassenschlucht hineinschrie, noch beklemmender als den verwaisten Marktplatz mit seinen Leichentuchfetzen; und mehr noch als das Gedrängel der Leiber zuvor und die Hysterie um den Leichnam des Dominikaners und all der Hass schienen die leeren Trakte und die einsame Treppe im Rathaus auszudrücken, dass dies nicht mehr die Stadt war, in der ich so viele Jahre gelebt hatte. Ich zögerte anfangs, als ich erkannte, dass nicht einmal der einzelne unbewaffnete Wächter, der in ruhigen Zeiten immer vor dem Eingang des Rathauses stand, zu sehen war; ich ging langsam und geradezu mit ungläubigen Schritten die breite Treppe in den ersten Stock empor; doch schon beim Treppenabsatz zum zweiten Stock, wo der Weg zum Rathausturm hinüberführte, holte die Stille mich ein, und ich ertappte mich dabei, dass ich die letzten Stufen bis zur Herrenstube hinaufrannte.
    Sie waren alle dort. Der gesamte Rat – Wierzig, Vogelfeder, Morstein und ein paar, deren Namen mir nicht geläufig waren, sich aber sicherlich ebenso wenig polnisch anhörten wie der Rest – einige andere, die entweder einmal dem Rat angehört hatten oder noch darauf hinarbeiteten, Sebastian Hollweg etwa oder Hieronymus Langbeitel; und in einer Ecke die Frauen und Kinder derjenigen, die am wenigsten darauf vertrauten, dass der Friede wiederherstellbar war. Wenigstens waren sie in der Unterzahl. Als ich in den Saal platzte, fuhren die Zunächststehenden herum und starrten mich an; die meisten anderen nahmen mich nicht einmal wahr. Sie standen in kleinen Grüppchen zusammen und murmelten oder hatten die Fensteröffnungen besetzt und spähten hinaus. Es roch abgestanden nach zu vielen Menschen, dumpf nach verschwitzten Kleidern und bleiern nach Angst.
    »Wo ist Bürgermeister Betmann?«, fragte ich einen, dessen Gesicht mir bekannt vorkam, ohne dass ich den Namen dazu hätte nennen können. Er deutete in den Saal hinein. Ich folgte seinem Fingerzeig, bevor ich den Bürgermeister erblickte hatte.
    »Wie sind Sie hier hereingekommen?«
    Ich schob mich an ihm vorbei, ohne ihm zu antworten. Er fragte nicht weiter nach. Ich spürte seine Blicke im Rücken. Der Angstgeruch war auch von ihm ausgegangen.
    Die Herrenstube beanspruchte fast die gesamte Grundfläche des Turms im seinem zweiten Obergeschoss. Im ersten Stock lag ein weiterer, ebenso großer Raum, in dem sich an normalen Tagen die Bittsteller, Vorsprecher und Beschwerdeführer versammelten und an Gerichtstagen die Ankläger, Zeugen und Advokaten. Die Treppe, die hier heraufführte, war eng, ein paar beherzte Männer hätten sie mit nassen Lappen gegen eine große

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