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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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an mir fest, wenn der Nordwind singt, wirft er seine Zuhörer gern mal um, nicht wahr? Und die Antwort, stets mit aufgerissenen Augen: Der Stoß kam vom Wind, Gevatter, aber der Gesang von den armen Seelen der Sankt-Anna-Kirche.
    Es hatte sich genauso zugetragen, wie ich es Laurenz Weigel ins Gesicht gesagt hatte, von einer plötzlichen Assoziation getrieben, die ich nicht mehr nachvollziehen konnte, wenn es nicht die nahe liegende war, dass auch damals die Schafe einem einzigen mörderischen Hirten nachgelaufen waren und dass ein Kind verschwunden war: Wer in der Sankt-Anna-Kirche Asyl gesucht hatte, hatte es vergeblich getan.
    Während der Sextmesse jenes Tages vor fast achtzig Jahren hatte einer der Domherren die Kanzel in der Marienkirche erklommen und ein kleines, zerfetztes Hemd in die Höhe gehalten. Er informierte die Gemeinde, dass das Hemd dem kleinen Jan Zygmunt gehörte, der seit mehreren Tagen spurlos verschwunden war. Der Domherr, Magister Budek, präsentierte das Hemd als Beweis dafür, dass der kleine Jan Opfer eines Verbrechens geworden war, und er brauchte nicht lange, um zum Kern seiner Anschuldigung zu kommen: ein Mord … ein Ritualmord … ein Ritualmord an einem christlichen Knaben, begangen von den Juden. Die Kirchgänger fragten nicht lange, wo das (erstaunlich saubere) Hemd wohl herkam, wenn der Knabe spurlos verschwunden war, noch, was Magister Budek dazu getrieben hatte, sich für den Fall zu interessieren. Der kleine Jan war das Kind von Tagelöhnern aus dem Schusterviertel gewesen; Stadtbewohner von seiner Herkunft konnten im Normalfall tot mitten in der Gasse liegen, ohne dass ein Domherr von ihnen Kenntnis genommen hätte, bevor sie sichin ein Geruchsproblem verwandelten. Die Kirchgänger bewaffneten sich stattdessen mit allem, was sich auf die Schnelle finden ließ, und stürmten die Häuser der Juden. Wo sie weder Spuren noch sonstige Hinweise auf das Mordopfer fanden, nahmen sie sicherheitshalber die Wertgegenstände an sich, die sich in den Häusern befanden. Wo sie auf die rechtmäßigen Bewohner der Häuser stießen, sorgten sie dafür, dass diese bereuten, Jan Zygmunt vermutlich ermordet zu haben. Bei Anbruch des Abends hatten sich die Männer, Frauen und Kinder aus dem Judenviertel, deren Behausungen nicht zu den ersten gehört hatten, die der Pöbel gestürmt hatte, in der Sankt-Anna-Kirche verbarrikadiert. Asyl … selbst Verurteilte, denen es gelang, vor der Kirche vom Schinderkarren zu springen und hinter das Eingangsportal zu fliehen, blieben verschont, solange sie dort waren. Die entfesselten Zuhörer von Magister Budek hingegen legten Feuer an die Kirche. Wer in der Kirche blieb, den holte das Feuer; wer nach draußen floh, wurde wieder in die Flammen zurückgetrieben. Als das Dach der Kirche einstürzte und der Rest der Stadt damit befasst war, die umliegenden Häuser, die ebenfalls Feuer gefangen hatten, zu löschen, waren die schrecklichen Laute aus dem Flammenmeer schon lange verstummt gewesen; doch es hieß, dass die, die sie gehört hatten, sie lange nicht vergaßen.
    Einige Dutzend Menschen, die bei lebendigem Leib verbrannten … der Wind, Gevatter, der Wind hat ihr Geschrei niemals vergessen, und wenn der Winter in die Stadt zurückkehrt und mit ihm der Nordwind, dann erinnert er uns auch wieder daran …
    Vor der Pforte des Franziskanerklosters kam ich wieder so weit zur Besinnung, dass ich nicht mehr panisch durch die Gassen rannte und die wenigen Menschen, die sich herausgewagt hatten, nach einem zarten kleinen Jungen mit dunklen Augen fragte. Mein Atem pfiff und meine Füße reichten bis in die Hölle hinab, wo die Teufel mit glühenden Gabeln in meinem Fleischherumwühlten. Neben der Klosterpforte hockte ein Kleiderbündel auf dem Boden, den Rücken gekrümmt und den Kopf zwischen den Knien verborgen. Ich hinkte zu der Gestalt hinüber und ließ mich neben ihr zusammensinken. Ich hörte ihr Schluchzen; es schnitt in mein Herz. Ich streckte die Beine aus, dann zog ich eines an und zerrte mir den Schuh vom Fuß. Rund um meine Ferse saß eine Reihe von blutunterlaufenen Blasen, die bis in den Knochen hinein zu stechen schienen, wenn ich sie drückte. Ich streckte den Fuß wieder aus und hielt den Schuh in der Hand. Ich dachte an das ernste, bekümmerte Gesicht, das Paolo gemacht hätte, wenn er mich so gesehen hätte, und begann zu weinen.
    Die Gestalt neben mir hob den Kopf und sah mich an. »Ich habe jeden Stein im Westteil der Stadt umgedreht«, sagte

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