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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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sie.
    Ich fasste hinüber und nahm ihre Hand. »Friedrich?«
    »Ich habe ihn nicht angetroffen, aber drei von seinen Leuten sind sofort mitgekommen und haben mir geholfen. Alles vergeblich …«
    »Daniel …?«
    »Ich habe sie alle nach Hause geschickt. Daniel und unsere eigenen Dienstboten zu uns, Friedrichs Männer zu sich. Ich weiß nicht, wo wir noch suchen sollen, Peter, der Kleine ist wie vom Erdboden verschluckt, er kann überall sein, und alles Mögliche kann ihm zugestoßen sein, und ich … o Gott …!«
    Jana begann haltlos zu schluchzen und sank in sich zusammen. Ich rückte an sie heran und versuchte, mich von ihrer Verzweiflung nicht überwältigen zu lassen. Sie lehnte so schwer an mir wie ein Lahmer; nach ein paar Augenblicken schlang sie plötzlich die Arme um mich und vergrub ihren Kopf an meiner Schulter und begann mit rauen Tönen zu weinen, dass ihr ganzer Körper zuckte. Ich schloss die Augen, aber ihr Anblick wurde durch ein Bild Paolos ersetzt, und ich wusste nicht, was von beiden mein Herz mehr zusammenpresste.
    Aus der Kirche des Franziskanerklosters hinter uns hörte ichdumpf die Messfeier: Agnus Dei, Fílius Patris. Qui tollis peccáta mundi …
    »Peter«, sagte Jana, »ich habe solche Angst.«
    … miserére nobis …
    »Paolo ist nichts passiert«, erwiderte ich. »Du wirst sehen, es geht ihm gut. Vielleicht ist er schon zu Hause und …«
    Sie richtete sich auf und sah mich an. Ihr Gesicht war geschwollen, ihre Augen gerötet und das Haar zerzaust. Es machte sie nicht hässlich, aber es machte sie sehr jung, jünger noch als zu der Zeit, in der ich sie kennen gelernt hatte. Ihre Augen verrieten, dass ihr Geständnis, sie habe Angst, noch untertrieben war. Jana war in heller Panik, und nur ihre Erschöpfung verhinderte, dass sie wild schluchzend in der Gegend herumlief; vermutlich war es genau das gewesen, was sie unter »jeden Stein umdrehen« verstanden hatte. Ich nahm es ihr nicht übel; schließlich war es dieselbe Panik gewesen, die mich hierher geführt hatte.
    …súscipe deprecatiónem nostram.
    »Wo kann er denn sein?«, rief sie. »Kannst du dir noch einen Ort vorstellen?«
    »Er ist nicht bis zu Mojzesz durchgekommen, sonst hätte Rebecca ihn gesehen.«
    »Warum ist er dann nicht wieder nach Hause gelaufen? Es sind doch keine fünfhundert Schritte!«
    Ich erwiderte nichts. Wir quälten uns nur selbst. Die Antwort auf ihre Frage lag klar auf der Hand: Weil ihn jemand abgefangen hatte. Die Studenten, denen Friedrich und ich mit Hilfe des Säcklergehilfen eine Schlappe bereitet hatten? Sie mochten mir bis zu Janas Haus gefolgt sein, ohne dass ich sie bemerkt hatte. Oder die anderen, die von der Mündung der Sankt-Anna-Gasse? Sie hätten Paolo sogar gekannt. Aber was hätten sie davon gehabt, den Kleinen zu entführen? Er war ein Kind, er hatte niemandem etwas getan.
    Genauso wenig wie die Kinder, die in der Sankt-Anna-Kirche verbrannt waren.
    Wir quälten uns wirklich nur selbst.
    Lamm Gottes, Sohn des Vaters, du nimmst hinweg die Sünde der Welt, erbarme dich unser …
    Jana ließ sich mit dem Rücken an die Mauer des Klosters zurücksinken. Sie drückte die Handballen gegen die Augen. Ich sah die abgestoßenen Stiefelspitzen unter dem Saum ihres Kleides hervorschauen. Sie bemerkte meinen Blick und schnaubte bitter. »Jana Dlugosz, allzeit bereit. Nur nicht dafür, mein Kind zu schützen.« Ihre Augen flossen erneut über. »Was sollen wir nur tun …was sollen wir nur tun ?«, flüsterte sie. »Wenn ihm etwas zugestoßen ist … ich würde es nicht … ich könnte es nicht …«
    Ein plötzlicher Windstoß zauste ihre Haare und warf mir Staub in die Augen. Er brachte einen Geruch mit, der nicht zu den Düften der Stadt passen wollte und tatsächlich weniger ein Geruch als vielmehr ein Gefühl war – das Gefühl, als würde sich etwas nähern, von dem diese kleine Bö ein Vorbote war. Die Bö sprang erneut auf und wälzte eine Staubfahne ein paar Schritte weit, bevor sie erstarb; sie erinnerte mich an den plötzlichen Tanz des Leichentuchs auf dem Marktplatz. Langsam wandte ich mich Jana zu. Ihre Worte hatten mich die Stufe zu einer neuen Qualität des Grauens emporgehoben. Sie würde es nicht …? Was nicht? Überleben ? War es das, weshalb ich in letzter Konsequenz meine Kinder hierher zitiert hatte? Um den Kreis zu schließen, auf dessen Bahn ich sie schon einmal mitgenommen hatte – die Bahn, die nach dem Tod meiner Frau Maria in einen sieben Jahre tiefen Abgrund von

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