Der Sohn des Tuchhändlers
großen Jarmulke von Fenster ab und sagte: »Er ist wieder gegangen.«
Rebecca Fiszel brach in Tränen aus. »Und wenn er mir etwas über Mojzesz sagen wollte?«
»Und wenn er Sie auch hätte mitnehmen wollen?«, fragte der kleine Mann zurück.
»Er war in unserem Haus – soll ich nachschauen, ob …?«
»Darauf warten sie doch nur.«
»Warum können sie uns nicht in Ruhe lassen?«, schluchzte Rebecca.
Natürlich erfuhr ich von alldem erst, als es schon viel zu spät war.
Der Schatten des Rathausturms fiel lang über den nördlichen Teil des Marktplatzes; er lag über dem Portal des Rathauses wie ein Menetekel. Ich stapfte durch die schmale Lücke zwischen der Nordflanke der Tuchhallen mit ihrem hässlichen Durcheinander von Buden und dem Rathausturm, und der Wind wehte mir Staub und Rauch in die Augen, bis ich die Engstelle passiert hatte. Als ich ins schräg einfallende Licht hinaustrat, stöhnte hinter mir jemand. Ich fuhr herum. Ich war allein. Ich starrte in die Lücke hinein, durch die ich soeben gekommen war und die von hier aus gesehen in eisig blauen Schatten lag. Wenn sich jemand dort verbarg, dann war er für einen, der im Licht stand, unsichtbar. Ich war gerade hindurchgegangen und hatte niemanden gesehen; dennoch … das Stöhnen erklang erneut; resigniert und ohne Hoffnung. Etwas griff nach meinem Bein. Ich starrte nach unten. Einer der Fetzen von Avellinos Leichentuch hatte sich um meinen Knöchel gewickelt. Ich schüttelte es heftig ab, noch bevor ich bemerkte, dass mich plötzliche Panik befallen hatte. Der Fetzen schlang und wand sich und rollte in die Schatten hinein, überschlug sich plötzlich der Länge nach und streckte sich und tat einen Satz und wirbelte förmlich in die Dunkelheit hinein und verschwand darin.
»Aaaaaach …«
Ich kniff die Augen zusammen. Ich hatte nichts weiter gehört als den Knochen, der in seinem Grab lag und sang: Man hat mich erschlagen, unter der Brücke begraben … den Wind, der in der Enge des Durchgangs beschleunigte und der wie üblich um die Vesperzeit herum in der ganzen Stadt stärker zu wehen begann. Der Leichentuchfetzen tanzte wahrscheinlich jenseits der Schatten auf die Nordseite des Marktplatzes hinaus und verlordas kurzfristige hektische Leben, das die Bö ihm verliehen hatte, dort wieder. Ich wandte mich ab und ließ das Stöhnen hinter mir, aber das Herzklopfen blieb nicht zurück, ebenso wenig wie die Erkenntnis, dass ich im ersten Augenblick gedacht hatte, das Jammern komme von einer Kinderstimme … und geglaubt hatte, sie rufe meinen Namen …
Die Westseite des Tuchmarkts war noch immer so leblos wie vorhin. Rund um belagerte Festungen pflegen die Bauerndörfer verlassen zu liegen, in der Regel schon bevor die feindlichen Truppen an ihr Ziel herangerückt sind. Ich fragte mich, wann König Kasimir eingreifen würde – aber die Antwort darauf lag auf der Hand. Hatten sich seine Soldaten irgendwo in der Stadt blicken lassen in den letzten zwei Tagen? Die Sonne stand tief über Zwierzyniec und schien direkt über dem Prämonstratenserinnenkloster zu hängen; ihr Licht warf hier in der Stadt Lichtreflexe vom Giebelturm auf der Vierung der Franziskanerkirche. Wenn ich mich umgeblickt hätte, hätte ich gesehen, wie auch die Westseite des Rathausturms im späten Licht erglühte, doch in meinem Fühlen war der gesamte Bau in Düsternis getaucht, und so drehte ich mich nicht um, um vom Gegenteil überzeugt zu werden.
1407 war der Rathausturm ebenfalls vom Seitenlicht beleuchtet gewesen, aber die Gassen der Stadt waren im Halbdunkel gelegen, und das Licht war nicht aus Richtung des Sonnenuntergangs, sondern aus Nordwesten gekommen. Die Sankt-Anna-Kirche hatte damals noch mitten im Judenviertel gestanden, so wie es heute die Stephanskirche tat. Es war Winter gewesen. Es war um die Vesperzeit gewesen.
Die Sankt-Anna-Kirche hatte gebrannt.
In harten Wintern faucht der Nordwind durch die Sankt-Anna-Gasse; in der Nähe der Kirche beginnt er zu heulen. Ich nehme an, es liegt am massigen Bau der Universität schräg gegenüber, der die Gasse verengt und den Wind zum Singen bringt, ebenso wie zwischen dem Rathausturm und den Tuchhallen.
Man hat mich erschlagen, unter der Brücke begraben …
Die alten Leute hatten stets eine andere Erklärung für den Gesang zur Hand, wenn die Windböen an ihren Fackeln gezerrt, die Talglichter in ihren Laternen fast ausgeblasen und sie selbst zum Stolpern gebracht hatten. Hoppla, Gevatterin, halten Sie sich nur
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