Der Sohn des Tuchhändlers
die Namen meiner Familie. Ich rannte, bis mein Herz zu zerspringen drohte und mein Atem in der Kehle kochte. Ich schlug um mich undtobte und spuckte. Ich wollte tot aufs Pflaster fallen und konnte es nicht.
Irgendwann und über viele Umwege, die mir nicht mehr im Gedächtnis sind, erreichte ich den Tuchmarkt. Die Stelle vor dem Rathausturm war menschenleer. Der Regen hatte den Scheiterhaufen gelöscht; er hatte leichtes Spiel mit ihm gehabt, denn man hatte ihn auseinander gezerrt. Als großer glühender Haufen hatte er sich dem löschenden Regen widersetzt; als die einzelnen Scheite verstreut auf dem Platz lagen und mit ihrer eigenen Kraft gegen das Wasser ankämpfen mussten, war es schnell mit ihnen vorbei gewesen. Ich starrte auf einen geschwärzten Ast direkt vor meinen Füßen, an dessen Unterseite ein Flämmchen noch gegen sein Verlöschen aufbegehrte. Noch während ich hinsah, flackerte es auf, war plötzlich verschwunden und durch einen weiß-roten Glutpunkt ersetzt; der Glutpunkt leuchtete auf, als würde er sich aufblähen und von neuem eine Flamme ausspucken wollen, doch tatsächlich war er dem Untergang geweiht – er wollte es nur nicht wahrhaben. Er flackerte auf und verlosch und war nie da gewesen.
Das Gewitter tobte jetzt irgendwo östlich von Krakau; es war noch zu hören. Seine Kraft hatte es über der Stadt verausgabt. Durch die Abflussrinnen an den Seiten oder in der Mitte der gepflasterten Gassen schossen Sturzbäche; viele der kleineren, ungepflasterten Gassen waren selbst Bachläufe, in denen eiskaltes, braunes Wasser knöcheltief schäumte. Der Sturm hatte sämtliche Lichter, die an irgendwelchen Stadtpalästen oder an den öffentlichen Gebäuden gebrannt haben mochten, gelöscht. Krakau hätte in nächtlicher Finsternis liegen müssen, aber das tat es nicht. Beinahe überall standen Menschen mit Fackeln und Laternen. Vordergründig begutachteten sie den Schaden, den das Unwetter an ihren Häusern verursacht haben mochte; tatsächlich standen sie in den Gassen, weil sie wussten, dass etwas fortgewaschen worden war aus ihrer Stadt und ihre Seelen Luftbenötigten und die Nähe anderer Seelen, denen es ebenso erging. Da und dort schleppten Menschen in Eimern Wasser über ihre Kellertreppen herauf und gossen es auf die Straße, aber die meisten standen nur da und sprachen leise mit ihren Nachbarn. Zeit für die notwendigen Arbeiten war später. Wo immer ich vorbeitaumelte, ohne Verstand und längst auch ohne Stimme, warfen sie mir misstrauische Blicke zu; doch ich war ein Gegenstand der Unruhe in ihrer Erleichterung, und sie vergaßen mich schneller, als ich benötigte, um zur nächsten Gassenecke zu gelangen.
Lediglich den Tuchmarkt mieden die Krakauer, als sei er noch nicht so weit, dass er betreten werden konnte. Ich stand an seinem Rand und schaute über die dunkle Fläche hinweg. Ich konnte nicht mehr laufen; ich konnte kaum noch stehen. Wenn ich Atem holte, pfiff es in meiner Brust, und am Rand meines Sichtfeldes wirbelten rote und schwarze Punkte. Ich stieß den toten Ast zu meinen Füßen beiseite und schaute. Wie auf einem Schlachtfeld lagen Bündel beisammen, Erschlagene und Niedergerittene; es dauerte einige Augenblicke, bis ich erkannte, dass es nur Bündel von Holz waren. Wenn es wirklich Tote gegeben hatte auf dem Platz, waren sie bereits weggebracht worden; da aber niemand dafür bis jetzt Gelegenheit gehabt hätte, musste es ohne Tote abgegangen sein. Hinter den Dächern der ersten Häuserreihe vor dem Judenviertel flackerten noch da und dort Flammen auf, doch sie taten nichts mehr zur Sache – das Feuer schien unter Kontrolle. Krakau war der Vernichtung entgangen. Ich vernahm die Geräusche von dort, wo die letzten Feuerherde ausgeschlagen wurden; sie drangen nur gedämpft hierher. Über dem Platz lag eine Stille, die zugleich erschöpft, bedrückend und erleichtert wirkte.
Dann erklang in die Stille, mit fast erschreckender Lautstärke, der hejnal . Der Trompeter stand noch immer an der Loggia des Rathauses. Er musste erkannt haben, dass es zur vollen Stunde war, dass ein neuer Tag anbrach, und blies, wie er sonst vom Signalturmdes Doms zu blasen pflegte. Das Lied stieg, holte Atem, stieg weiter an, holte Atem – Krakau, wach auf, Krakau, wach auf …! –, und brach ab, wie es sich gehörte. Der Feind war verschwunden, die Normalität war zurückgekehrt.
Ich erkannte, dass für mich die Normalität nie mehr zurückkehren würde.
Ich ließ den Kopf hängen und weinte um
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