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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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meine Gefährtin Jana, meine Söhne Daniel und Paolo und meine Tochter Sabina. Vielleicht weinte ich auch ein bisschen um mich selbst.
    Das Regenwasser rann und gurgelte durch die Gassen, spülte den Schmutz der letzten Wochen weg, wusch allen Unrat mit sich fort und trug ihn in durch die Abflusslöcher in den Graben, der um die Stadt herum gezogen war. Der Graben, durch das Unwetter ebenfalls überfüllt und in Fluss geraten, nahm ihn mit und schwemmte ihn in die Weichsel, und von dort würde er ins Meer getragen werden nach einer langen Reise nach Norden; im Meer würde er versinken und in Vergessenheit geraten, wie alles in Vergessenheit gerät, was das Meer in seine Arme nimmt und in seinem kühlen Bett Verzweiflung und Hoffnung gleichermaßen begraben liegen.

Kapitel 5
    24. Tag im Brachmonat, 1486 a.d.

    Dies irae, dies illa
    Solvet saeclum in favilla
    Quantus tremor est futurus
    Quando Judex est venturus
    » Wie viele ?«, fragte der Zunftmeister.
    »Vier«, sagte der Stadtknecht und spuckte aus. »Das ist eine Arbeit für den Totengräber, nicht für unsereinen. Ah!« Er wischte sich die Hände an seinem Wams ab, als er erkannte, dass sie von den Toten schmierig waren. »Schlimmer verbrannt als der Fraß, den meine Alte mir jeden Tag auftischt.«
    Der Zunftmeister war geduldig. »Kennst du die Toten?«
    »Ein alter Kerl, ein junger Kerl und zwei Weiber. Ansonsten – kannst du im Braten noch die Sau erkennen, die der Braten mal war? Du kannst sie dir gern selber anschauen, wir haben sie da drüben hingelegt.«
    Der Zunftmeister seufzte. »Dann fragen wir mal in der Nachbarschaft herum. Oder gibt es irgendwelche Überlebenden, die hier hereingehören …?«
    Der Stadtknecht sah auf und erblickte mich, als ich heranstolperte. Beide lehnten an der Mauer, die Janas Innenhof zur Gasse hin abgrenzte, und teilten sich den Inhalt einer Steingutflasche. Der Stadtknecht war ruß- und dreckverschmiert, vollkommen durchnässt und sprach mit breitem polnischem Akzent; der Zunftmeister trug noch seinen Lederumhang, das schützendeKopftuch hing wie ein Schal um seinen Hals. Er sprach das gedehnte Krakauer Deutsch. Der Stadtknecht deutete mit der Hand, die die Flasche hielt, auf mich und sagte: »Er gehört hier herein.« Er bekreuzigte sich.
    Sie starrten mich an, ohne mich anzusprechen. Ich blieb vor dem Eingangstor stehen. Jemand hatte im Übereifer einen der Torflügel aus der Verankerung gehoben; er lag unter dem Torbogen wie das gefallene Bollwerk einer unterlegenen Festung; das kleine Fensterchen war ein dunkles Rechteck, durch das nur der von schmieriger Asche bedeckte Boden hindurchschaute. Ich trat einen Schritt zurück, als eine Gruppe von Menschen herauskam.
    Laurenz Weigel und Joseph ben Lemel trafen im Tordurchgang aufeinander. Sie sahen sich an. Beide waren in dieser Nacht um Jahre gealtert. In ihrer Begleitung befanden sich Knechte. Jeweils zwei von ihnen trugen Bretter zwischen sich, auf denen etwas von Tüchern Verdecktes lag, das menschliche Körper gewesen sein konnten. Die Formen waren so klein wie die von Kindern.
    »Lassen Sie uns das Totenlied gemeinsam anstimmen«, sagte ben Lemel zu Laurenz Weigel. »Zu anderen Zeiten hätte etwas Gutes daraus entstehen können.«
    »Das wäre es nicht«, zischte Weigel. »Und jetzt lassen Sie mich vorbei. Meine Tochter hat lange genug neben ihrem Mörder gelegen.«
    »Er hat sie nicht umgebracht!«, schrie Samuels Vater. »Sie wissen das doch so gut wie ich!«
    »Ich weiß nur, dass sie tot ist«, sagte Weigel. Er setzte sich in Bewegung. Seine Knechte folgten ihm und drängten Joseph ben Lemel und dessen Gefolgschaft beiseite. Als sie auf die Gasse traten, erblickte Laurenz Weigel mich. Er musterte mich von oben bis unten. Dann spuckte er vor mir auf den Boden. Ohne ein Wort wandte er sich ab und führte die Knechte, die seine tote Tochter zwischen sich trugen, in Richtung Schustergasse davon.
    Als ich den Blick von ihm abwandte, stand Joseph ben Lemel vor mir. Ich erwartete, dass auch er vor mir ausspuckte. Doch dann streckte er die Hand aus.
    »Wir tragen beide schwer«, sagte er. Ich nickte. Seine Augen füllten sich mit Wasser. Es gab mir einen Stich. Ich erwiderte seinen Händedruck und fühlte, wie mir die Tränen die Wangen hinunterliefen.
    »Samuel war kein Sodomit«, sagte er.
    »Na gut«, sagte ich.
    »Und er hat Zofia Weigel nicht geschändet.«
    »Das ist doch alles jetzt vollkommen egal.«
    »Er wäre dazu gar nicht in der Lage gewesen.«
    Ich sah ihn

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