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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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versuchte, auf den Beinen zu bleiben. Dann spähte ich zu dem anderen Mann hinüber, dem, der gesprochen hatte. Es war Joseph ben Lemel. Er sah aus, als hätte er seinen eigenen Tod gesehen. Ich wandte mich ab.
    »Alles klar?«, fragte der Mann mit dem Lederumhang.
    »Ich denke schon«, erklärte ben Lemel.
    »Gut. Ich muss den anderen helfen!« Er wandte sich ab und rannte mit flappendem Umhang die Gasse hinunter, dorthin, wo die anderen verschwunden waren.
    »Friedrich!«, krächzte ich. »Hast du sie gefunden?«
    »Das ist nicht Ihr Freund«, sagte Joseph ben Lemel. »Das ist einer von den Handwerkern. Ich habe seine Zunft nicht erkannt. Die Zünfte sind doch mit der Brandbekämpfung …«
    Ich versuchte, mich von der Wand abzustoßen. Als ich einen Schritt tat, fuhr mir ein Schmerz in den Schädel, dass ich dachte, er würde gespalten. Ich taumelte und musste an mich halten, damit ich mich nicht übergab. Joseph ben Lemel hielt mich fest, und ich kämpfte schwächlich gegen ihn an, um in den Innenhof zurückzukehren. Undeutlich sah ich, dass Janas Gesinde sich auf der gegenüberliegenden Gassenseite versammelt hatte und zu mir herüberstarrte. Sie drängten sich zusammen wie eine Herde Schafe im Regen, deren Schäfer verloren gegangen ist.
    »Lassen Sie mich los«, gurgelte ich. »Friedrich! Wo ist Friedrich? Jana! David! Sabina!«
    Ben Lemel gab nach; auf ihn gestützt torkelte ich um die gähnende Toröffnung herum. Dann starrte ich auf das, was von Janas Haus übrig war.
    Ich konnte nicht länger als ein paar Minuten ohne Bewusstsein gewesen sein. Diese Zeit hatte genügt, um das Dach an der hinteren Seite in sich zusammenstürzen zu lassen. An der Vorderseite ragten die schwarzen Balken noch in die Luft, rauchend und zischend, der Regen hatte die Flammen, die an ihnen gezüngelt hatten, bereits erstickt. Ich dachte daran, dass Friedrich über die hintere Treppe ins Obergeschoss vorzudringen versucht hatte, und fühlte eine neue Welle Übelkeit. Das Feuer war jetzt viel schwächer als zuvor, als ob die Verpuffung, die die beiden Fensterländen herausgesprengt hatte, das meiste von seiner Kraft mitgenommen hätte. Der Regen rauschte unvermindert herunter und löschte die Flammen an tausenden von Stellen, an denen sie sofort wieder aufzüngelten, erneut gelöscht wurden, den Kampf ein weiteres Mal aufnahmen und danach verloschen. Der Gestank nach nassem Brand, Rauch und anderen verbrannten Dingen ließ mich würgen. Joseph ben Lemel und ich standen allein im Innenhof, der voller verkohlter, rauchender Balken und zerschmetterter Dachziegel war. Ich merkte, dass Joseph ben Lemel genauso wie ich zu den beiden Fenstern starrte, die uns noch Hoffnung gegeben hatten. Die Gewalt des Feuers hatte nicht nur die Fensterläden gesprengt, sondern auch die Rahmen beschädigt. Beide Fensteröffnungen sahen aus wie gezackte, aufgerissene Mäuler, die in Agonie erstarrt waren. Ben Lemel wandte sich mir zu. Was über sein Gesicht lief, war nicht nur Regen. Ich pflanzte die Beine in die Erde und machte den Versuch, allein zu stehen.
    »Warum haben Sie ihn von der Flucht abgehalten?«, fragte er. »Sie haben mir doch dazu geraten.«
    »Ich habe ihn nicht abgehalten«, sagte ich mühsam. »Er wollte nicht nach Warschau. Sie mögen ihn auf den Weg geschickt haben, aber er hat sich bei Fryderyk Miechowita verborgen. Wir haben ihn dort gefunden.«
    Bem Lemels Gesicht verzog sich. »Mein Samuel«, schluchzte er. »Hättest du einmal auf deinen Vater gehört.«
    Ich versuchte, seinen Schmerz nicht an mich heranzulassen. Ich hatte meinen eigenen Schmerz, der im Augenblick wie unter einer dicken Schicht Werg in meinem Herzen lag, und ich wusste, wenn diese Schicht verschwand, dann würde ich zusammenbrechen.
    »Was immer zwischen ihm und Zofia passiert ist«, sagte ich, »sie konnten ihm nicht helfen. Alles sprach gegen ihn. Und wenn sie ausgesagt hätten, dass er ihr nichts zu Leide getan haben konnte, weil er ein Sodomit war, hätten sie nur seine Hinrichtungsart geändert, das ist alles …«
    Bem Lemel stierte mich aus seinen blutunterlaufenen Augen an. »Was sagen Sie da?«, flüsterte er.
    »Das, was Samuels Kameraden bei Veit Stoß …«
    »O Herr, o Herr!«, stöhnte ben Lemel. Er griff in sein Haar und zerrte daran. »Das erzählt man sich also. O Herr!« Er schrie auf. »Ich bin an allem schuld!«
    Bevor ich ihn aufhalten konnte, rannte er davon. Ich sah ihm hinterher. Als ich mich umgedreht hatte, merkte ich, dass er und ich

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