Der Sohn des Tuchhändlers
doch nicht allein im Innenhof gewesen waren. Laurenz Weigel hockte an die Wand gelehnt auf dem Boden, eine in sich zusammengesunkene massige Gestalt, die in einer riesigen Wasserlache kauerte, ohne es zu merken. Wenn seine Augen nicht im Widerschein des Feuers gebrannt hätten und voller Hass auf mich gerichtet gewesen wären, hätte er für tot gelten können. Ich gab seinen Blick zurück, aber ich wankte unter ihm. Dann ruckte sein Kopf nach oben, er sah an mir vorbei, und ich wandte mich unter gewaltiger Mühsal wieder dem Haus zu. Jemand mit einem Lederumhang und umwickeltem Kopf erschien in den Rauchschwaden, die fett zur Tür herausquollen, stolperte rückwärts heraus und schien jemand anderen über den Boden zu ziehen. Ich taumelte auf ihn zu.
»Friedrich …«
Er richtete sich auf. Er war ein ganzes Stück kleiner als ich. Als er das Tuch vom Kopf nahm, erkannte ich ihn: Es war einervon Janas Knechten. Er schaute auf die schlaffe Gestalt nieder, die er herausgezogen hatte.
»Lag bei der hinteren Treppe«, sagte er heiser. »Hab seinen Umhang genommen, weil er ihn nicht mehr brauchte. Wollte ihn nicht drin liegen lassen.«
Er bückte sich und schleifte den Körper weiter von der Tür weg. Ich folgte ihm. Ich spürte, dass sich die Schutzschicht in meinem Herzen aufzulösen begann. Friedrich von Rechbergs Gesicht war unverletzt, aber rußverschmiert. Seine Augen waren weit offen und von blutigen Äderchen durchsetzt; seine Zunge war geschwollen und lag in seinem Mund wie ein Stück, das nicht zu ihm gehörte.
»Ist nicht weit gekommen«, sagte der Knecht. »Haben noch jemand bei der Treppe gefunden. Michal ist noch drin.« Er drängte sich an mir vorbei zum Hauseingang. »He, Michal, brauchst du Hilfe?«
Ich starrte auf Friedrich von Rechberg hinunter. Der Regen fiel in seine offenen Augäpfel. Ich fühlte das Bedürfnis, ihm die Lider zu schließen, aber ich konnte mich nicht hinunterbeugen. Ich hörte die Knechte rumoren, dann kamen sie zu zweit wieder heraus, eine weitere Gestalt zwischen sich tragend. Undeutlich erkannte ich, dass Laurenz Weigel auf die Beine kam. Die Knechte traten neben Friedrichs Leichnam und legten ihre Last sanft ab. Ich sah langes Haar, das im Dreck gelegen und durch das Wasser geschleift war und sich wie eine schmutzige Schleppe neben dem Kopf der Frau ausbreitete. Weigel torkelte heran, die Augen weit aufgerissen und eine Faust in den Mund gestopft. Ich hatte Mühe, auf das Gesicht der Toten zu fokussieren. Ihr Anblick schwankte vor mir hin und her. Weigel fiel auf die Knie, als habe ihm jemand gegen die Beine getreten.
»Mein Herz«, stammelte er. »Mein Herz.«
»Nein«, sagte ich.
Das Bild vor meinen Augen wurde endlich scharf. Ich sah in das Gesicht, das seit so vielen Jahren täglich um mich herumgewesen war. Wann akzeptiert man den Tod – wenn man in ein Antlitz blickt, über das er sich gelegt hat? Oder glaubt man es dann immer noch nicht?
Ich glaubte es immer noch nicht. Dann glaubte ich es. Dann wusste ich, dass ich wirklich durch das Tor geschritten war, auf dem stand: Lasst alle Hoffnung fahren.
Die Tote war Julia, Janas Magd, die ihr so gut wie nie von der Seite zu weichen pflegte.
Ich drehte mich um und ging wortlos hinaus. Ich spürte die Blicke von Laurenz Weigel und den Knechten im Rücken. Die Männer draußen traten einen Schritt auf mich zu, als sie mich kommen sahen, aber dann verharrten sie und starrten zuerst mich an und dann zu Boden. Ich ging an ihnen vorbei. Ich ging die Gasse hinauf in Richtung Sankt-Anna-Gasse. Männer mit Äxten und Hämmern liefen an mir vorbei, schrien sich gegenseitig Anordnungen zu. In meinem Rücken, aus der Richtung des Judenviertels, hörte ich den Lärm, den das Feuer machte und den die Brandbekämpfer bei ihrem Versuch verursachten, eine Bresche gegen das Feuer zu schaffen. Aus den Wolken über der Stadt fiel der Regen noch immer, doch entweder war ich abgestumpft oder er hatte nachgelassen; auch Blitz und Donner schienen schwächer geworden oder weitergezogen zu sein. Ich erreichte die Einmündung der Sankt-Anna-Gasse und marschierte in irgendeine Richtung weiter.
Sie waren alle tot.
Ich begann zu laufen.
Alle bis auf Paolo, und Paolo war spurlos verschwunden und lag vielleicht ebenfalls tot in irgendeiner Gosse.
Ich begann zu rennen.
Ich hörte mich Namen brüllen und erkannte undeutlich, dass der Schmerz jetzt freigelassen war und durch meine Seele tobte. Ich stürmte durch die Gassen der Stadt und kreischte
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