Der Sohn des Tuchhändlers
Feigling. Paolo war der Auslöser.«
Paolo begann plötzlich, hoch und dünn zu schreien. Ich fuhr zusammen. Die Haare in meinem Nacken stellten sich auf. Jana prallte zurück.
»Neeeeeiiiin!«, schrie Paolo und kniff die Augen zusammen. »Neiiiiin. Ich war es niiiiiiiicht!«
Wir starrten ihn an. Ich konnte fühlen, dass mein Herzschlag jetzt wirbelte. Sabina, die neben Jana stand, hatte eine Hand vor den Mund geschlagen. O mein Gott, dachte ich …
»Ich war es niiiiiiicht ! neeeeiiiiiiin !«
… Paolo hatte Gewalt gesehen, Gewalt, die von mir ausgegangen war. Als Paolos Zustand sich mit jedem Schritt verschlechterte, den Daniel ihn unserem Haus entgegentrug, hatte ich vermutet, meine Handlungen seien schuld daran. Ich hatte um Paolos Leben gefeilscht, während ich einen jungen Burschen in einem Griff festgehalten hatte, der es mir leicht gemacht hätte, sein Genick zu brechen, und Paolo hatte zugesehen. Und ich hatte vermutet, er hatte genauso wie ich gedacht, der Mann mit der Lederschürze würde ihn zu Boden schmettern. Dabei war es ganz anders.
Paolo machte sich Vorwürfe, schuld an der Gefahr zu sein, in der er und ich gesteckt hatten. Was geht in einem Kind vor, das zusieht, wie sein Vater letzten Endes sein eigenes Leben dranzugeben bereit ist für seine Unversehrtheit – und das intelligent genug ist zu wissen, dass es der Auslöser für die Situation war?
Jana nahm Paolo in den Arm, und sein Gekreisch verwandeltesich in Schluchzen. Es stieß seinen Körper so sehr, dass Jana förmlich mitgestoßen wurde. Tränen liefen über ihre Wangen, während sie ihn an sich drückte. Ich wünschte mir nichts mehr, als hinüberzugehen und sie beide in meine Arme zu schließen, aber ich blieb auf der anderen Seite des Bettes stehen. Zuletzt kniete Sabina neben ihnen nieder und versuchte sie zu beruhigen.
Ich ging hinaus. Ich fühlte mich wie der kleine Junge, der ich gewesen war, als ich zum ersten Mal aus dem Verschlag hinter dem Haus meiner Eltern die frischen Eier geholt hatte. Eine der Hennen war brütend auf ihrem Gelege sitzen geblieben, und ich hatte sie beiseite heben müssen. Sie hatte mich nicht angegriffen oder versucht, die Wegnahme ihrer Eier zu verhindern. Sie hatte mich angestarrt, und ich hatte geahnt, dass selbst ein kleines Hühnerhirn und eine kleine Hühnerseele hassen können.
Ich stapfte zum Saal hinüber, aber selbst der weite Raum war mir zu stickig. Schließlich stieg ich in den Innenhof hinab. Der Anblick der Schreiber und Buchhalter in Janas Kontor und das gelassene Nicken derjenigen, die die Augen zu mir hoben, hätte etwas Tröstliches haben können. Ich dachte an Paolos schrille Schreie. Zuletzt fand ich mich in der Gasse vor dem Hauseingang wieder. Das Geräusch der Menge auf dem Marktplatz war wie das An- und Abschwellen einer Brandung, in der man tausend Stimmen zu hören meint und doch nichts unterscheiden kann. Es war ein Geräusch, bei dem einem sämtliche Sinne befahlen, wegzurennen. Ich wusste nicht, warum ich vor dem Eingang stehen blieb und lauschte. Es war ein Locken wie das Nahen eines heftigen Gewitters, das man schon über den Feldern jenseits der Stadtmauern toben hört und dennoch vor seinem Haus steht und in den sich zusammenballenden Himmel gafft, anstatt die Fenster sturmdicht zu machen.
»Wenn die Reiter der Apokalypse kommen, werden wir nicht das Donnern der Hufe, sondern so etwas hören«, sagte eine Stimme mit leichtem Akzent neben mir. »Tausend Narren, dieeinem noch größeren Narren zujubeln, der nach Gerechtigkeit brüllt und Hass meint.«
Ich drehte mich um. Ich hatte ihn nicht gehört; er musste so leise aufgetreten sein wie ein Fuchs.
»Sie kommen aus der falschen Richtung«, sagte ich.
Fryderyk Miechowita zuckte mit den Schultern. »Ich habe einen Umweg über das Judenviertel gemacht. Die Sankt-Anna-Gasse ist von Idioten verstopft.«
»Halten Sie es nicht für gefährlich, zuerst durch die Judengasse zu spazieren und dann auch noch mit einem Deutschen zu sprechen?«
»Die Juden sind nicht im Zentrum des Interesses, so sehr der eine oder andere sie auch dorthin zu bringen versucht«, sagte er und ließ nicht erkennen, ob meine Spitze ihn getroffen hatte. »Mit den Deutschen haben Sie schon eher Recht; sogar mehr denn je.«
»Wussten Sie, dass die Künstler, die Ihre Hausmauer verschönt haben, auch bei Friedrich von Rechberg tätig geworden sind?«
»Sie sind heute noch nicht viel herumgekommen, sonst hätten Sie noch ein halbes Dutzend anderer
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