Der Sohn des Tuchhändlers
darin nur langsam weichend.
Zweimal hatte Gott der Herr mir heute einen Schutzengel geschickt; die Situationen waren einander so ähnlich, dass ich unwillkürlich nach der bulligen Gestalt des Säcklergehilfen Ausschau hielt. Die Gemeinheit, die die jungen Männer vor Friedrichs Haus und diese hier trieb – von der sich die Stimmung des gesamten Marktplatzes nährte – war ebenfalls immer und durch alle Zeiten dieselbe; weshalb sollte da die Rettung daraus auf unterschiedliche Weisen vonstatten gehen?
Anders als bei Friedrich von Rechberg standen wir hier nicht im Mittelpunkt des Interesses – wir waren nur eine Vignette, die sich möglicherweise an drei weiteren Stellen rund um den Marktplatz gerade auf ähnliche Weise wiederholte. Was sich vorn beim Rathausturm abspielte, war aufregender, auch wenn nichts geschah. Dennoch hatten sich ein paar Gaffer um uns herum aufgestellt, weniger angezogen von der Not, in der Paolo und ich uns noch Augenblicke zuvor befunden hatten, sondern eher von der Aussicht, dass sich zwischen den Studenten und den Bildschnitzern eine schöne Prügelei entwickeln mochte. In diesen dünn gestaffelten Zirkel traten jetzt die Studenten und verschmolzen mit ihm, verschwanden in der Deckung der Meute, ohne noch ein Wort zu äußern. Ich sah ihre Mäntel und Kappen zwischen den Braun- und Indigotönen der Kleidung der Leute auf dem Marktplatz, dann waren sie untergetaucht, als wären sie nie da gewesen.
Daniel kam heran, Paolo auf dem Arm und seine neugewonnenen Freunde im Schlepptau. Der Mann mit der Lederschürze stapfte neben Daniel her und zwinkerte dem immer noch blassen Paolo zu. Der Kleine hielt sich am Hals seines großen Bruders fest wie ein Schiffbrüchiger an einer Planke. Die Gaffer zerstreuten sich. Das Gebrüll vor dem Rathausturm drang mir plötzlich wieder ins Bewusstsein; die Schreier verlangten jetzt nicht mehr, Avellino solle freigelassen werden, sondern skandierten: »Lasst-ihn-sprechen! Lasst-ihn-sprechen!« Aus der Nähe gesehen, wirkte Daniels Grinsen bemüht. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen.
»Sie haben sich wirklich eine schlechte Zeit ausgesucht, uns hierher zu holen«, sagte er.
Ich überraschte ihn, indem ich ihn und Paolo einfach umarmte. Daniel war größer als ich, doch ich fühlte den kleinen Jungen, der er einmal gewesen war, in meinen Armen, und in diesem Augenblick der Erleichterung über unsere Rettung und der Sorge über die Zukunft hätte ich nur weinen mögen wegen der vielenJahre, in denen ich die Gelegenheit nicht genutzt hatte, ihn zu umarmen.
»Wer sind deine Freunde?«, fragte ich schließlich, ohne ihn loszulassen. Ich spürte Paolos Stirn an meiner Wange. Sie war kalt. »Veit Stoß’ Gesellen?«
Er machte sich los, ohne Paolo auf den Boden zu setzen. Er nickte. Sein Gesichtsausdruck war weicher geworden. Ich wandte mich an den Mann mit der Lederschürze und ergriff seine Hand.
»Danke«, sagte ich. Er schüttelte meine Hand und zerquetschte sie dabei. Dabei zuckte er mit den Schultern.
»Das nicht polnisch«, sagte er mit starkem Akzent und deutete mit der freien Hand in die Richtung, in die die Studenten verschwunden waren. Seine Bewegung umfasste den ganzen Marktplatz. »Das alles Verrückte.«
»Verführte«, hörte ich mich sagen.
»Macht nicht besser.«
»Sie sind Krakauer?«
»Wir alle.« Er wies auf die anderen Männer. »Aber nicht im Augenblick stolz darauf.«
»Mein Haus ist nicht weit von hier. Ich möchte Sie und Ihre Freunde einladen. Sie wissen nicht, was ich … ich dachte, mein Herz bleibt stehen, als ich fürchtete, Paolo …«
Er schüttelte den Kopf. »Danke, aber wir zurück an Arbeit in Dom. Eilig. Meister Stwosz …«, er grinste plötzlich, »immer ist eilig.«
»Aber wozu sind Sie dann …?« Ich starrte ihn an. »Sie haben Daniel und Paolo eskortiert?«
Er zuckte aufs Neue mit den Schultern. »Ist besser. Leute«, er kurbelte an seiner Schläfe, »verrückt gemacht sind wegen Prediger und wegen was Samuel ben Lemel soll getan haben.«
Ich war noch immer erschüttert, aber nicht genug, um nicht zu hören, was seine Worte andeuteten. »Sie zweifeln daran, dass er es getan hat?«
Er lachte. »Samuel ist … wie sagen Sie …?«
»Ein leichtsinniger …«
»Ein Narr«, unterbrach er mich. »So sagen Sie. Samuel ist einer.«
»Und was soll das heißen? Samuel hat Zofia Weigel nicht …?«
»Doch, er hat. Er hat, auf alle Fälle! Die Frage aber ist: Was hat sie?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob
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