Der Sohn des Tuchhändlers
»Gebt-ihn-frei!« und »Lasst-ihn-sprechen!« zu »Lügner-wir-hängen-euch-auf!« über und zeigte darüber hinaus keinerlei Anstalten, sein Tagwerk wieder aufzunehmen oder in Frieden (oder überhaupt ) zu gehen. Im Lauf der Stunden zwischen Non und Vesper fielen der sich immer mehr aufschaukelnden Stimmung mehrere Marktstände, ein paar Türen von prominent in der begehrten Lage direkt am Markt stehenden Häusern und ein alter Mann zum Opfer, der von unerkannt gebliebenen Rüpeln in die Floriansgasse gejagt worden war. Nicht, dass die Floriansgasse nicht voller Leute gewesen wäre … die brandlustige Meute vor dem Rathausturm war,obschon zahlreich, bei weitem in der Unterzahl gegenüber den Krakauern, die ruhig und besonnen oder wenigstens unparteiisch blieben, gleich ob deutscher oder polnischer Herkunft. In einem schienen sich alle, Deutsche oder Polen, Vernünftige oder Krakeeler, einig zu sein: dass die Jagd einer Horde Mordbrenner auf ein einzelnes Opfer ausgerechnet in dem Augenblick auf der anderen Gassenseite an einem vorbeigekommen war, als man sich abgewendet hatte, um mit einem Freund über das Wetter zu sprechen. Der alte Mann kam bis ungefähr in die Höhe von Laurenz Weigels Haus, wo er tot und mit blutigem Schaum vor dem Mund zusammenbrach …
Wenig später verlor das Stakkato-Gebrüll der Menge (»Lügner-wir-hängen-euch-auf!«) an Fahrt. Der Refrain war zu abstrakt. Niemand würde den Rat aufhängen; und: Alle wussten das. Vielleicht war es ja Langnase, der erkannte, dass der Blutdurst der Horde eine Richtung benötigte, und er gab sie ihr. Jedenfalls passte die Wendung zum Inhalt von Julius Avellinos letzter Predigt.
»Le-mel!«, skandierte ein Teil der Menge plötzlich, und der Ruf pflanzte sich fort wie Wellen auf einem Teich, in den jemand einen Stein geworfen hat. »Le-mel!«
»Le-mel!«
»Le- mel !«
» le-mel! le-mel !«
Und dann …
… eine hohe Stimme, geübt in der Klage Sie-haben-mich-ruiniert! …
» le-mel !«
Langnase.
»Kreuzigt ihn! Kreuzigt Samuel ben Lemel! Kreuzigt das ganze Judenpack!«
Diesen Augenblick wählte Veit Stoß für seinen Auftritt.
Zu Hause kam ich weder dazu, von der Schmiererei an Fryderyk Miechowitas Haus zu erzählen noch von meinem Zusammenstoß mit den Künstlern etwas später bei Friedrich von Rechberg.
» Was ist passiert?«, fragte Jana fassungslos.
»Die Kerle schnappten sich Paolo«, erklärte Daniel. »Als wir nach dem Besuch bei Veit Stoß im Dom wieder zurückkehren wollten und den Auflauf auf dem Marktplatz sahen, erboten sich ein paar von seinen Gesellen, uns zu begleiten. Wir waren schon fast hier, als Paolo sah, dass Vater an der Mündung zur Sankt-Anna-Gasse stand und sich mit ein paar Männern unterhielt … oder jedenfalls sah es für ihn danach aus …«
Jana bedachte mich mit einem Seitenblick, während sie Paolo das Wams auszog. Der Kleine saß apathisch auf seinem Bett und vermied es, mich anzusehen. Ich spürte einen Kloß im Hals wegen seines Verhaltens und die stets präsente Furcht, es würde daraus etwas Ernstes erwachsen, etwas Schlimmes, etwas Lebensbedrohliches … ein Mensch, dem mein Herz gehörte, brauchte nur zu sagen, dass er sich merkwürdig fühlte oder mysteriöse Schmerzen hier oder da hatte, und diese Furcht erwachte und feierte grimmig Urstände in meiner Seele, bis bei meinen Lieben der Normalzustand wieder eingetreten war. Der Lärm auf dem Marktplatz drang nicht bis hierher. Man hätte glauben können, es sei ein Tag wie jeder andere, wenn man nach den Geräuschen ging. Ich schloss die Augen und sah Paolos blasses Gesicht vor mir.
»Ich weiß nicht, wer von euch beiden dümmer ist«, sagte Sabina und ließ keinen Zweifel daran, dass sie Daniel und mich meinte. »Ein kleines Kind in diese halbe Revolution da draußen zu zerren.«
»Als ich Paolo mitnahm, war davon noch nichts zu sehen«, sagte Daniel.
»Paolo«, sagte Jana sanft und kniete vor dem Jungen nieder. Er sah zarter denn je aus, wie er nur in seinem Hemd und mit hängenden Schultern auf dem Bett saß. »Alles ist gut. Alles ist vorüber. Du bist in Sicherheit.«
Paolo antwortete nicht. Seine Augen waren schwarze Löcher in seinem weißen Gesicht. Ich fühlte, wie mir mein Herzschlag die Kehle verengte.
»Sie quälten einen alten Mann«, sagte ich.
Jana blickte auf. »Und du musstest dich einmischen, obwohl du die Verantwortung für Paolo hattest.«
»Ich habe mich nicht eingemischt. Tatsächlich habe ich mich rausgehalten wie ein
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