Der Sohn des Verräters - 21
zu.
Yllana hatte aufgehört zu spielen, und es war sehr still, als Marguerida sich wieder setzte. Erneut flammte Unbehagen in ihr auf, das sie aber zu ignorieren versuchte. Vielleicht war sie nur wegen der Oper nervös. Eigentlich war es ja mehr ein Oratorium, da es weder Kulissen noch Kostüme geben würde. Beides hätte sich Marguerida sehr gewünscht und dazu eine öffentliche Aufführung des Werks im neu erbauten Musiksaal am anderen Ende Thendaras. Aber in ihrer Position war das vermutlich keine sehr gute Idee. Javanne Hastur und einige andere eher konservative Angehörige der Domänen würden es wahrscheinlich für unschicklich halten, dass sie ein Stück komponierte, das öffentlich aufgeführt werden sollte, als wäre sie eine gewöhnliche Musikerin und nicht die Frau Mikhail Hasturs. Gegen die Feindseligkeit von Javanne war sie machtlos, sie konnte die Frau höchstens überleben, wie sie hoffte.
Doch das würde womöglich noch eine Weile dauern, die Hasturs waren für ihre Langlebigkeit berühmt. Erst in einigen Jahrzehnten würde Mikhail der Herrscher ihrer Welt werden, wenn es überhaupt dazu kam. So wie die Dinge im Augenblick standen, war er Regis’ rechte Hand, Lew Alton war seine linke, und Danilo Syrtis-Ardais hielt ihm wie immer den Rücken frei. Marguerida war es recht so, denn wenn Mikhail erst an der Macht war, würde ihr Leben noch eingeschränkter werden, als es bereits war. Zum Glück na hm sie an, dass sie bis dahin eine ältere Dame sein würde, der es hoffentlich nicht mehr viel ausmachte, regelrecht eine Gefangene auf Burg Comyn zu sein. Noch machte es ihr allerdings sehr viel aus. Manchmal hätte sie am liebsten geschrien. Und gelegentlich ging sie tatsächlich mitten in der Nacht in einen der rückwärtigen Höfe und heulte die Monde an, nur damit ihr leichter wurde, und um einmal ganz allein, ohne die Wächter, Diener und all die zänkischen Persönlichkeiten zu sein, von denen die Burg voll war.
Sie nahm die Arbeit wieder auf und fand eine sehr schwierige Passage, die ihre volle Aufmerksamkeit erforderte. Vielleicht wäre es gar keine schlechte Idee, die Sache auf eine andere Gelegenheit zu verschieben – auf nächstes Jahr gar. Marguerida nahm einen neuen Bogen und sichtete die verschiedenen Stimmen darauf, fand heraus, wo das Problem lag, und tüftelte daran herum, bis sie zufrieden war. Wie hatte sie nur so plump sein können? Sie fragte sich, ob Korniel, der vorzügliche Opernkomponist des letzten Jahrhunderts auf Renney, auch solche Probleme gehabt hatte. Sehr wahrscheinlich. Die Flut von Ys , sein bekanntestes Werk, war Margueridas Maßstab für eine herausragende Leistung, und sie wusste, dass sie wahrscheinlich nie etwas so Großartiges und Bewege ndes zu Stande bringen würde. Immerhin war manches von dem, was sie in Fortführung der umfangreichen Balladentradition über Hastur und Cassilda geschaffen hatte, gar nicht so übel. Sie hatte den Text geringfügig erweitert – hoffentlich nicht so sehr, dass sie die Empfindungen ihres Publikums verletzte und einige fremde Elemente aus Quellen eingeführt, die sie im Norden gesammelt hatte. Erald, der Sohn Meister Everards, des verstorbenen früheren Hauptes der Musikergilde, war dabei sehr hilfreich gewesen. Er hielt sich nicht oft in Thendara auf, da er beim Fahrenden Volk lebte, den umherziehenden Gauklern Darkovers, aber wenn er in der Gegend weilte, kam er jedes Mal zur Burg und unterhielt sich mit ihr. Ein seltsamer Mann, aber sie betrachtete ihn als einen Freund.
Ja, dieser Refrain, den sie eingeführt hatte, war wirklich gut. Oder aber ihre Augen füllten sich aus einem anderen Grund mit Tränen. Marguerida legte die Feder beiseite, hob die linke Hand mit dem nun von Tintenflecken beschmutzten Seidenhandschuh und wischte den feuchten Film weg. Es war wirklich albern, von seiner eigenen Schöpfung so gerührt zu sein. Andererseits, wenn das Werk ihr selbst die Tränen in die Augen trieb, würde die Wirkung auf ihr Publikum vermutlich die gleiche sein. So ermuntert, ging sie mit frischer Begeisterung wieder an die Abschrift.
Doch mitten zwischen zwei Strophen trat plötzlich eine Veränderung ein. Im einen Augenblick war Marguerida noch tief in ihre Papiere versunken, und im nächsten fuhr eine Kälte in ihren Körper, die ihre Hand heftig zittern ließ. Die Feder spritzte, machte mehrere Kleckse und glitt ihr aus den Fingern. Über dem linken Auge spürte sie einen scharfen und schmerzhaften Stich, der so schnell
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