Der Sohn des Verräters - 21
mehr Domenic, vor dem sie sich fürchtete. Er sah an ihr vorbei an die Wand und ließ nicht zu, dass er auch nur den kleinsten Gedanken von ihr auffing. „Ja, das stimmt.“, sagte sie leise. „Ich habe ihn nie gemocht, und Tante konnte ihn auch nicht leiden – und was hat sie jetzt davon! Aber ich sagte mir, dass ich mich nur kindisch benahm, weil er mich .., na ja, immer so seltsam angeschaut hat. Als hätte er gern schlimme Dinge mit mir gemacht und sich nur wegen Loret nicht getraut.“ Sie hielt inne und schluckte schwer, und Domenic war überzeugt, sie durchlebte noch einmal jene Augenblick. „Ich habe die Sachen, die ich ihn denken hörte, nie ernst genommen.“ „Warum nicht?“ „Es war zu erschreckend.“ Sie zitterte am ganzen Körper, zwang sich aber rasch, damit aufzuhören. „Was würdest du tun, wenn du mit einem Mann übers Land ziehen würdest, der sehr wahrscheinlich ein Mörder ist? Und der daran denkt, dich …“ Domenic erhaschte wider Willen einen klaren Eindruck einer Vergewaltigung, und es kostete ihn Mühe, nicht nach oben in das Zimmer zu gehen, in dem sich Vancof gerade aufhielt, und den Mann zu töten. Er beherrschte seine Gefühle nur unter großer Anstrengung. Da er merkte, wie er langsam Illonas Vertrauen gewann, und sie nicht weiter verängstigen wollte, sagte er nur: „Du hättest es wahrscheinlich kaum einem Dorfwächter erzählen können.“ Illona lachte leise. „Denen versuchen wir möglichst aus dem Weg zu gehen, denn sie sind immer drauf aus, uns das Leben schwer zu machen. Es ist schon schlimm genug, dass wir sie die halbe Zeit bestechen müssen, damit sie uns überhaupt auftreten lassen. Die in der Nähe der Türme sind nicht so. Aber in den kleineren Orten gibt es oft geldgierige Tyrannen. Außer einem guten Tag und einem Lächeln habe ich in meinem ganzen Leben kein Wort mit einem Wachtposten gewechselt.“ Domenic grübelte darüber. Es vermittelte ihm ein Bild vom Leben außerhalb der Mauern von Burg Comyn, das befremdlich und ungemütlich war. War es schon immer so gewesen, oder hatte die zurückgezogene Lebensweise von Regis Hastur in den letzten Jahren erst solche Geschehnisse ermöglicht? Er selbst war nie in einer Lage gewesen, in der er niemanden um Hilfe bitten konnte, aber für das Mädchen und andere traf das offenbar nicht zu. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, wie ihr Leben gewesen war, und das wenige, was er bisher in Erfahrung gebracht hatte, machte ihn nur wütend und traurig.
Domenic hatte nie ernsthaft über das Leben der gewöhnlichen Leute auf Darkover nachgedacht. Er war einfach davon ausgegangen, dass es angenehm war, auf jeden Fall besser als sein Dasein mit den endlosen Pflichten. Jetzt erkannte er, wie wahrhaft unwissend er war.
Wenn doch nur seine Mutter hier wäre! Sie würde ihn beruhigen – oder etwa nicht? Marguerida Alton-Hastur war als Privatperson unverblümt und geradeaus. Wenn sie ein Problem erkannte, versuchte sie es zu lösen, anstatt es unter den nächsten Teppich zu kehren. Plötzlich verstand Domenic besser, warum Lew Alton so unglücklich über die letzten Jahre von Regis Hastur gewesen war, über die Art und Weise, wie er sich immer mehr zurückgezogen hatte und ängstlich und misstrauisch geworden war. Sein Großvater wusste wahrscheinlich, dass auf Darkover nicht alles perfekt lief, nicht einmal besonders gut für manche Leute. Und Domenic erkannte nun, dass Regis’ Weigerung, die Domänen aktiv zu regie ren und sich stattdessen hartnäckig auf Burg Comyn zu verkriechen, zu Unmut beim einfachen Volk geführt hatte. In ein paar Jahren, vielleicht schon in einem Jahrzehnt, hätte es dann sogar zu der Revolution kommen können, die Vancof anzuzetteln versuchte.
Domenic war zu müde und zu durcheinander, um sich völlig klar über alles zu werden. Er fühlte, als lastete ein schweres Gewicht auf ihm, das ihn zu Staub zermalmte, und er gab sich innerlich einen Ruck, um von dieser abwärts führenden Spirale zu springen. Das Mädchen sah ihn neugierig an.
„Du bist ein sehr merkwürdiger Junge, Domenic.“ „Inwiefern?“ „Naja, du bist ungefähr in meinem Alter, aber man hat das Gefühl, als ob du Jahre älter wärst. Wie wenn ein Greis in den Körper eines Jungen gesperrt wäre. Ich glaube, du weißt eine Menge, aber ich glaube auch, dass du keine Ahnung vom richtigen Leben hast.“ „Da könntest du Recht haben.“ Er lächelte steif, „Ich werde mich mit Freuden deiner größeren Erfahrung beugen.“
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