Der Sohn (German Edition)
gefurchten Brauen. »Was zu Hause passiert ist, natürlich.«
Zögernd stelle ich die Frage, die ich zu stellen habe – die Antwort kenne ich ja insgeheim schon: »Hat Tess dir etwas erzählt?«
»Hmmm…«
»Sie war heute Nacht bei dir – das weiß ich.«
»Ja. Aber nicht jetzt, Mam, bitte nicht jetzt.«
»Mitch?«
»Nein! Zu Hause…«
Ich gebe nach, vielleicht vorschnell.
Und gestatte mir, an etwas anderes zu denken. Dieses Wort, zu Hause. Zu Hause, das ist Jacob, das sind Mitch und Tess. Nicht unser Haus – das ist kein Zuhause mehr. Trotzdem werden wir nach der Landung Jacob vom Krankenhaus abholen und in das besudelte Haus fahren, das wir früher einmal Zuhause nannten. Wir haben schon seit mehr als drei Wochen nicht mehr dort geschlafen. Ich bin zwar dort gewesen, natürlich, mehr als einmal. Und erst vor ein paar Tagen habe ich es von oben bis unten saubermachen lassen. Das Blut war Gott sei Dank längst beseitigt worden, aber die Fußböden waren so schmutzig wie noch nie. Auch ein Teil des angerichteten Schadens (unter anderem ein riesiges Loch in der Wand hinter unserem Bett, ein weiteres im Flurfenster, ja sogar kaputte Fliesen) ist inzwischen ausgebessert. Schmierseife ist der einzige Geruch, den ich ertragen kann. Das Pine-Sol habe ich weggeworfen – nie mehr Lysol mit Tannenduft. Neue Bettwäsche.
In dem Zimmer schlafen, in dem sie gestanden haben. Vicodin. Oxazepam.
Mir fällt ein, dass ich Mitch immer noch nicht gefragt habe, wie eigentlich Zewas Briefe in sein Zimmer gekommen sind.
138
»Hast du sie gefunden?«, fragt Mitch. »Die hat Opa mir mal gegeben.«
Ich weiß nicht, ob ich es mir nur einbilde, aber ich glaube, er wird rot.
»Ach, wann denn das?«, forsche ich nach.
»Als wir einmal zusammen in Baden-Baden waren, das ist schon Jahre her.«
»Ich hatte sie noch nie gesehen«, sage ich und tue mein Möglichstes, nicht beleidigt zu klingen.
»Sie stammten aus einem Archiv«, sagt Mitch.
»Ich weiß. Aber du hattest sie gar nicht mitgenommen.«
»Sie dürfen nicht verlorengehen.«
»Nein.«
Ich will nicht weiterfragen. »Oma hat mir Opas Schreibtisch geschenkt, wusstest du das?«
»Echt? Schön.«
»Ja.«
Und dann erzähle ich ihm von der Pistole. Dass sie runterfiel, als wir den Schreibtisch nach unten trugen. Von dem Loch in der Treppe, als sie plötzlich losging. Weil sie geladen war. Mit neuen Patronen. Von der Patronenhülse, die ich unten an der Treppe fand. Ganz modern, neun Millimeter. Wieder so ein Rätsel – man konnte daraus eigentlich nur schließen, dass mein Vater sein Waffenarsenal bis zuletzt akribisch gewartet hatte.
Mitch sieht mich an, ungläubig, geschockt, wie mir scheint.
»Echt? Was für eine Pistole denn?«
Seine Augen, die so viel tiefer in den Höhlen liegen als früher, was ihm etwas Sorgenvolles verleiht und ihn älter macht, blicken mich mit einem Anflug kindlicher Neugier gebannt an.
»Eine Luger, so eine richtige alte, mit Holzgriff. Ein schönes Stück, gut gepflegt. Stell dir vor: Sie hat all die Jahre geladen unter seinem Schreibtisch geklebt!«
Irgendetwas an Mitchs Reaktion kann ich nicht deuten. Ich frage ihn, ob er davon gewusst habe. Dabei fällt mir ein, dass die Pistole noch bei meiner Mutter unter dem Gästebett klemmt. Schnell holen gehen, denke ich. Nicht vergessen. Sonst findet Iezebel sie womöglich noch.
»Ich? Nein, wieso sollte ich was davon gewusst haben? Das erstaunt mich genauso wie dich. Eine Luger.«
Mitch blättert hektisch im Flugzeugmagazin Holland Herald, einen verbissenen Ausdruck im Gesicht.
»Ist irgendetwas?«, frage ich leise.
»Nein, Mam, es ist nichts.«
Es tritt so etwas wie die Stille vor der Kernexplosion ein. Ich fürchte, ich bin nicht vorbereitet. Dann ist es so weit.
Es bricht aus Mitch heraus.
»Es ist alles Mögliche! Zu viel! Du weißt, dass es zu viel ist! Es ist zu viel passiert! Unvorstellbar viel. Und ich wusste nichts davon. Ich hab da drüben blöde vor mich hin trainiert, während ihr von irgendwelchen Scheißbuschnegern überfallen worden seid! Und ich wusste nichts davon, weil ihr es nicht für nötig gehalten habt, es mir zu erzählen! Als wenn ich auf einem verdammten Ponyhof gewesen wäre und ihr mir nicht den Spaß verderben wolltet. Was meinst du eigentlich, warum ich das Ganze mache?«
Mitch schreit mir den letzten Satz ins Gesicht, und ich sehe, wie sich sein gestähltes Gesicht verzieht – er kämpft mit den Tränen. Dreizehn Wochen Disziplin.
Aber sosehr
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