Der Sohn (German Edition)
mich das jetzt auch erschreckt, unser Beschluss, nichts zu sagen, hatte seine Berechtigung – dazu stehe ich. Ich beiße mir fest auf die Lippe, weinen will ich jetzt auf keinen Fall.
»Was soll ich denn jetzt wieder nicht kapiert haben?«, entgegne ich. »Warum du das Ganze machst? Weil du es willst, scheint mir, weil das eine Aufgabe ist, die du dir selbst gestellt hast, und weil das schwer ist und groß und erfüllend, vielleicht. Aber vor allem, weil du es selbst willst, oder?«
»Ach lass«, murmelt Mitch. »Vergiss, was ich gesagt hab. Tut mir leid.«
»Und wenn wir dich benachrichtigt hätten, was dann?«, sage ich. »Dann wäre alles umsonst gewesen. All die Entbehrungen, all die Mühen. Denkst du, ich hätte mich nicht genauestens darüber informiert, was gewesen wäre, wenn ich dich da herausgeholt hätte? Da hättest du alles schön in einer anderen Einheit zu Ende bringen können, Wochen später. Hättest du das denn gewollt? Wie wäre das für dich gewesen? Na? Hättest du das gewollt?«
Ich bin jetzt auch lauter geworden, als es meine Absicht war, und aus dem Augenwinkel sehe ich eine Stewardess mit besorgter Miene auf uns zukommen.
»Entschuldigen Sie, kann ich vielleicht behilflich sein?«
»Du hättest gar nichts machen können.«
Mitch starrt vor sich hin. Er ist anscheinend schon wieder ruhiger. Beherrscht sich.
Plötzlich nimmt er meine Hand und hält sie fest, ganz fest, ohne etwas zu sagen. Ich erwidere seinen Händedruck.
»Liebe Mutter«, flüstert er dann. »Es ist nur so… Es macht mich so wütend. Ich wünschte, ich hätte euch beschützen können.«
Während des restlichen Fluges erzähle ich Mitch so ziemlich alles, was ich über Ton Raaijmakers weiß. Tess schläft ganz tief.
139
Jacob sitzt schon reisefertig da, als wir am Vormittag in sein Zimmer taumeln. Wir sind mit dem Taxi vom Flughafen geradewegs zum Krankenhaus gefahren. Für uns ist jetzt tiefe Nacht. Ich bin ganz leer im Kopf.
Jacob hat einen schwarzen Anzug mit weißem Oberhemd angezogen, fein und festlich, als müsse er rückwirkend zu Mitchs Graduation. Sein Arm ruht in einer Schlinge. Er hat etliche Kilo abgenommen. Es steht ihm gut.
»Neun Kilo!«, ruft er mit gespieltem Stolz. »Sie haben mir neun Kilo gestohlen!«
Seine Stimme ist immer noch leiser und heiserer als vorher, aber er hat wieder etwas von seiner alten Bravour und Spottlust zurück. Man könnte fast meinen, dass seine schmalere Statur die Verbildlichung seines seit der Schreckensnacht so viel sanfteren und vorsichtigeren Verhaltens ist.
»Mir nur sechs«, sagt Mitch.
Ungewollt drückt seine Miene Bestürzung über den Anblick seines Vaters aus. Jacob zieht Mitch mit seinem gesunden Arm an sich. Mitchs Augen sind gerötet, als er sich wieder von seinem Vater löst.
Ich umarme Jacob mindestens eine Minute lang, ohne etwas sagen zu können. Jetzt, da ich ihn wiedersehe, scheint es auf einmal wieder, als hätte sich unser Horrorerlebnis gerade erst abgespielt.
Tess drückt Jacob so fest an sich, dass er kurz nach Luft schnappen muss, weil sie ihm weh tut – die Schusswunden unter seinem Hemd sind noch verbunden. Er zeigt es Mitch und Tess mit der gleichen Selbstironie wie eben, als handle es sich um Trophäen.
Ein Koffer steht bereit und in einer Tragetasche die mehr als hundert Karten mit Genesungswünschen. Jacob kann nicht verhehlen, dass ihn das mit Stolz erfüllt. Auch die vielen Blumen, die er bekommen hat, sind zur Mitnahme verpackt und bereitgestellt worden. Sie sind ihm wichtig, und dafür schämt er sich nicht.
Als ich mich in dem Zimmerchen umschaue, in dem Jacob all die Zeit gegen die Dämonen gekämpft hat, die seine physischen Kräfte aufsogen, seine Pläne pulverisierten, seinen Optimismus, seinen Mut und seinen Glauben an Jacob Edelman in seiner Gesamtheit trübten, meine ich seine Gedanken und die Selbstgespräche, die er geführt hat, fast zu hören. Freundlich-sachliche Krankenschwestern und Ärzte haben Jacob Stunde um Stunde mit Schmerzmitteln, Antibiotika, Drainagen und Sauerstoff beigestanden. Er muss sich vorgekommen sein wie ein waidwundes Tier, das in den letzten Zügen liegt.
Dennoch sind ihm für seine Verhältnisse wenig Klagen über die Lippen gekommen, und er hat jeden altruistischen Akt der Schwestern mit angemessener Dankbarkeit begrüßt. Als habe er auf die richtigen Worte, die richtigen Gedanken und Gefühle gewartet. Die Gedanken, die ihn wieder zu dem machen würden, der er vorher gewesen war –
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