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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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Gesicht hast du nicht gesehen.«
    »Nein.«
    136
     
    Es blieb eine Weile still. Dann sagte Mitch ruhig und sachlich: »Du behältst noch etwas für dich, Tessje, sonst hättest du uns das doch erzählen können, oder? Warum hast du das nicht getan? Wenn du ihn nicht gesehen hast, musst du doch gar nichts befürchten, du kannst ihn ja gar nicht identifizieren. Hast du sein Gesicht gesehen oder nicht?«
    »Hör auf!«, schrie Tess.
    »Hast du ihn gesehen oder nicht?«, fragte Mitch erneut.
    Ich hätte es niemals gewagt, so nachzufragen.
    »Du meinst also, ich muss etwas befürchten, wenn ich ihn gesehen habe, ja? Na also!«
    Mitch sagte etwas, aber das konnte ich nicht verstehen. Danach blieb es erneut eine Weile still. Bis ich Tess plötzlich wieder hörte.
    »Versprich, dass du es niemandem sagst! Versprich es!«
    »Natürlich sage ich nichts.«
    »Er hat gesagt, dass er Leute kennt, Mörder! Wenn es rauskommt, müssen wir dran glauben, Mitch, echt!«
    »Ich verspreche, dass ich nichts sagen werde, Tess. Aber sag es mir. Sag es, bitte!«
    Wieder blieb es still.
    »Ich kann es nicht sagen, es ist zu widerlich«, heulte Tess.
    »Widerlich?«
    »Na gut, wenn du’s unbedingt wissen willst«, blaffte Tess unvermittelt. »Während er all diese Drohungen ausgestoßen hat, fingerte er an sich selbst rum, und dann hat er mir sein Ding in den Mund geschoben, ja! Ich bin fast erstickt, so eklig war das, immer tiefer hat er es mir in den Mund gestoßen, dass ich fast keine Luft mehr kriegte, und dann kam so’n Glibber raus, und ich musste würgen und hätte ihn fast gebissen, wenn ich nicht solche Angst gehabt hätte, und als er ihn wieder rauszog und in die Hose steckte, hab ich voll losgekotzt, über seine Schuhe! Er hat unheimlich geflucht, und ich konnte plötzlich meine ganze Kraft zusammenballen und die Füße hochschleudern, als er sich gerade vorbeugte. Da hab ich ihm die Mütze vom Kopf getreten. Er hat sie zwar gleich wieder runtergezogen, um sein Gesicht zu verstecken, aber ich hab’s trotzdem kurz gesehen. Ja, ich weiß, wer er ist, Mitch. Ich weiß es.«
    »Wer? Sag schon!«
    »Du kennst ihn nicht.«
    »Mensch, Tess!«
    »Er war auf einem Foto in Opas Ordner, in dem Ordner vom Ausbau. Ich hab ihn sofort erkannt.«
    »Wie heißt er?«
    »Versprich, dass du nichts unternimmst, versprich es!«
    »Tess!«
    »Raaijmakers. Ton Raaijmakers.«
    Mitch blieb lange stumm.
    Tess beschwor ihn noch einmal, es niemandem zu erzählen.
    »Nein, das tu ich echt nicht, ich versprech’s«, sagte Mitch. »Mensch, Tess. Keine Angst mehr haben, ja? Der ist so gut wie tot.«
    »So gut wie tot?«
    »So gut wie tot.«
    137
     
    Wir haben zwei Sitze nebeneinander und einen in der Reihe davor, am Fenster. Den möchte Tess. Sie wolle sowieso nur noch schlafen, so müde sei sie.
    Auf ewig: Was auch immer Tess möchte, sie soll es haben.
    Sowie sie sich gesetzt hat, wickelt sie sich in ihre Decke ein und schließt die Augen.
    Mitchs Miene ist mürrisch und verschlossen, aber ich kann nichts daraus ablesen.
    Wie gerne würde ich auch schlafen. Doch wenn ich die Augen schließe, zittern sogar meine Lider, und ich bekomme Atemnot. Wenn man mich jetzt anfasste, würde mein wütendes Inneres hervorbrechen, blutig, zwischen rundherum aufplatzender Haut, so stelle ich es mir vor. Denn ich bin wie Springkraut, wie dieses fisselige Unkraut, das man nur leicht zu berühren braucht, und schon platzt seine Samenkapsel auf. Wenn mich jemand anspräche, würde ich zerspringen und in Millionen Stückchen auf die anderen Passagiere herabregnen.
    Ich bleibe intakt, als die Stewardess mir mit meinem Sicherheitsgurt behilflich ist, und auch, als sie mir ein Glas Orangensaft reicht, löst das keine Explosionen aus.
    Mitch ist nach wie vor in Gedanken versunken, wie in Trance. Ich traue mich nicht, ihn anzusprechen.
    Das Flugzeug setzt sich in Bewegung. Durch mein Fensterchen sehe ich einen Wagen voller Koffer davonfahren – nicht die unsrigen. Auch bei anderen Menschen geht das Leben weiter, werden Reisen unternommen. Die Flugzeugmotoren beginnen auf die altbekannte nervtötende Art immer lauter zu heulen.
    Wir lösen uns vom Boden, und ehe ich michs versehe, bohren wir uns durch die Wolken.
    »Ich bin froh, dass Opa das nicht mehr erleben musste«, sagt Mitch, als wir die Flughöhe erreicht haben und der Motorenlärm abgeflaut ist. Er sieht mich nicht an.
    »Was meinst du?«, frage ich vorsichtig.
    »Was ich meine?«, wiederholt er ungläubig und mit

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