Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
Vom Netzwerk:
da jetzt alles, was er kannte und woran er glaubte, vorübergehend betäubt worden und verstummt war. Zu Jacob, dem Optimisten, dem Eroberer. Erst jetzt wird mir so richtig bewusst, wie machtlos er sich gefühlt haben muss, wie geschlagen, wie gedemütigt. Ich bin in letzter Zeit so sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen. Die Wut, die zu Jacobs relativ rascher Auferstehung geführt hat, ist Wort für Wort in diesem Zimmer geschrieben worden (ich kann mich noch gut erinnern, wie seine Augen eines Tages wieder zu leuchten schienen: als er wieder Kraft für Wut hatte). Auch hier ist bis aufs Messer gekämpft worden, wir verlassen mit diesem Zimmer eine Arena.
    Das Pflegepersonal nimmt Abschied, ich trage Jacobs Geschenke, Mitch zieht Jacobs Koffer, und Jacob selbst geht langsam hinterher, an Tess’ Seite, die ihn fest am Arm hält. Er hat den Gang eines alten Mannes – einen Rollstuhl lehnt er ab.
    Ich sehe uns so gehen. Das ist der Stoff für Kriege, für Fehden ohne Ende. Das ist meine Familie. Die einzige, die ich habe. Das sind die Menschen, die ich liebe. In eine Schachtel kann ich sie nicht stecken, so wie mein Vater uns nicht sicher verwahren konnte, sicher vor der schlechten Welt. Und man sieht, was dabei herausgekommen ist.
    Wer sich an meiner Familie vergreift, vergreift sich an mir. Wir sind gedemütigt worden, aber wir sind noch da. Wir leben. Mir schlägt das Herz bis zum Hals, wenn ich Jacob anschaue, mit seiner gekrümmten Haltung, seinem abgemagerten Körper, den dunklen Rändern unter den Augen, und Tess, so blass und dumpf, ohne den sonst so strahlenden, herausfordernden Blick. Wie geht es mit uns weiter? Wie werde ich mit dieser Wut leben? Wie kann ich dieses Böse auf ein Format reduzieren, das nicht mehr meine ganze Brust ausfüllt?
    140
     
    Mit neuen, hochwertigeren Schlössern an Türen und Fenstern, einer neuen Alarmanlage und Überwachungskameras am Zaun rund um das Grundstück müsste es im Prinzip möglich sein, dass wir uns sicher fühlen. Tess wird bei Mitch im Zimmer schlafen, auf einer Luftmatratze auf dem Fußboden, das will sie unbedingt.
    Nachmittags geht Mitch zu einem Freund, und Tess versenkt sich wieder in die Facebookwelt. Von der Versicherung haben wir noch nichts Endgültiges gehört, aber ich habe für Jacob und mich schon mal neue Laptops gekauft.
    Jacob geht die Post durch. Ich habe sie für ihn vorsortiert. Wir reden nicht viel. Er ist grau vor Erschöpfung. Ich bin mit einem Mal befangen.
    »Hast du schon etwas mehr von Tess erfahren?«, fragt er. »Sie ist so furchtbar blass.«
    »Ja«, sage ich. »Ja, ich weiß mehr. Aber du willst nicht wissen, was ich weiß.«
    Jacob beißt sich auf die Lippen und umklammert die Stuhllehne so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten. Ich kann es ihm nicht ersparen, und deshalb erzähle ich ihm möglichst wortwörtlich, was ich gehört habe.
    Von den Schweinereien. Den Drohungen. Und ich halte auch nicht mit den Bezügen zu mir und meinem Vater hinter dem Berg. Der Vermutung, dass der Krieg für all das verantwortlich sein könnte.
    Ich habe den Eindruck, dass sich durch meine Erzählung etwas an Jacobs distanzierter Haltung zu seiner eigenen Vergangenheit ändert. Ich erkenne zum ersten Mal meinen Vater in meinem Mann wieder. Die Konzentration, die Verbissenheit, den Ernst. Er kann sich nicht länger aus all dem heraushalten, er ist genauso ein Teil davon wie wir alle – vielleicht ist es das. Oder vollzieht sich das bei jedem Mann, der am eigenen Leib Gewalt und Grausamkeit erleben musste? Es ist ein verwirrender Moment.
    »Das ist unfassbar«, sagt Jacob. »Das ist unerträglich, Saar. Du weißt, dass ich das nicht einfach hinnehmen kann. Jetzt ist wirklich Schluss. Ich werde Benji bitten, das in die Hand zu nehmen. Das ist groß, Saar, größer als wir. Gottverdammt, man kommt sich ja vor, als hätten wir wieder zweiundvierzig!«
    Beunruhigt sehe ich Jacob an – ich bin mir der Tragweite dessen, was er sagt und impliziert, nur zu bewusst.
    Gerade als ich meine rhetorische Frage stellen will, was er denn damit meine, kommen Mitch und Tess herein, und nicht lange danach auch noch Iezebel und Tara, die Mitch und Jacob sehen möchten.
    Iezebel hat Mitch eine kleine Statuette von meinem Vater mitgebracht und Tess einen silbernen Anhänger, der einmal Zewa gehört hat. Ich zeige die Bilder und kurzen Filmaufnahmen, die ich von Mitchs Graduation gemacht habe, und wie von selbst und trotz allem kommt eine freudige, ja geradezu

Weitere Kostenlose Bücher