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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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übermütige Stimmung auf, in der Mitch zu seinem Bericht ansetzt – ungewöhnlich bedächtig, ohne große Ausschmückungen.
    Wir werden mucksmäuschenstill, und ich weiß nicht, ob ich nur für mich selbst spreche, wenn ich das sage, aber für mich, in meinem übermüdeten Zustand, vermischen sich die Quälereien, die Mitch sich von seinen Vorgesetzten gefallen lassen musste, und der Terror, den unsere Angreifer ausgeübt haben, mühelos zu ein und derselben Sache. Ich habe das Gefühl, langsam festgeschraubt zu werden, gegen große Widerstände, wie eine Schraube in eine Stahlwand – es ist nicht vorbei, es geht nicht vorbei, ich bin in meinem Innern immer noch rauh wie Schmirgelpapier.
    Ich bringe Iezebel nach Hause. Ich hätte etwas bei ihr vergessen, gebe ich vor. Eine Tasche mit Notizen für einen Artikel. Sie liege wohl noch im Gästezimmer. Dort klaube ich dann schnell die Pistole unter dem Bett hervor und stecke sie in die Tragetasche mit Zeitschriften, die ich tatsächlich liegen gelassen hatte. Zu Hause halte ich die Luger einige Minuten lang in den Händen, bevor ich sie an ihren alten Platz klebe. Die gehört mir. Die ist von jetzt an ein zentraler Gegenstand in meinem Haus.
    Um fünf Uhr nachmittags lassen wir indisches Essen kommen – Mitchs Hunger scheint immer noch unstillbar zu sein, ich selbst bekomme nur ein paar Bissen hinunter. Als auch Tara um halb sieben nach Hause geht, wirkt es auf einmal unheimlich leer und beängstigend still bei uns. Ich glaube, wir empfinden die kommende Nacht alle vier als Bedrohung, aber da wir alle umfallen vor Müdigkeit, können wir die Angst verdrängen, zumal es draußen noch ganz hell ist.
    Nachdem ich Tess’ Luftmatratze gerichtet habe, fallen Jacob und ich noch völlig angezogen auf unserem Bettüberwurf in tiefen Schlaf.
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    Mitternacht, und die Welt ist tot. Die Stille ist entsetzlich. Eine Nacht von saugendem, schwärzestem Schwarz. In meinem Kopf arbeitet es.
    Wieso gehen wir davon aus, dass wir jetzt sicher sind? Es ist so dunkel draußen, kaum vorstellbar, dass es je wieder hell wird, aber ich bin wach, hellwach, erfüllt von Missbehagen – und einer unerklärlichen Panik.
    In meinem Traum hat mein Vater schreiend und unter Tränen versucht, Tess den Händen des Sadisten zu entreißen. Er hat auf ihn eingeschlagen, aber umsonst, mit hämischem Lachen zog der Mann eine Waffe aus dem Hosenbund. Er richtete sie auf meinen Vater, der alt und dürr vor ihm stand, und drückte ihn bäuchlings auf den Boden. Ich entsinne mich – das war noch am schrecklichsten –, dass mein Vater zu singen begann, er sang eine Arie, eine dramatische Arie, Wagner, irre Töne, große Musik, größenwahnsinniges Getöse. Und da hat der Mann plötzlich wie tollwütig auf meinen wehrlosen Vater geschossen, eine regelrechte Exekution war das. »Mutti!«, hörte ich nur noch. Das war das Allerletzte, was ich hörte, Mutti, und mein Vater lag in einer riesigen Blutlache. Ich weinte untröstlich. Da erst sah ich, dass auch Tess wie tot auf dem Boden lag, und ich stieß einen Schrei aus.
    Ich bin aus dem Schlaf hochgefahren, und mir bricht der kalte Schweiß aus, denn ich muss mir eingestehen, dass ich nicht mal weiß, ob Tess um Hilfe geschrien, nach mir gerufen hat, als sie nach der Pfeife dieses Faschisten tanzen musste. Als sie mich brauchte, habe ich sie nicht gehört, das steht fest, ich hätte sie retten müssen, diesen Mann umbringen, mit meinen bloßen Händen töten müssen.
    Während ich das denke, spüre ich, wie sich die altbekannte verflixte Weichlichkeit in mir breitmacht, die mir meine beschämende Schwäche vergegenwärtigt und die Angst, die ich damals im Wald hatte, wo ich mich bis aufs Blut hätte wehren müssen – und später ebenso, in meinem eigenen Haus, gegen diese bewaffneten Männer. Alles weiß man immer erst hinterher. Wie wenig sich die starke Person, die man zu sein wähnt, mit der Wirklichkeit aus Schwäche, Feigheit, Angst deckt.
    Verdammte, selige Unwissenheit. Übrigens muss mich mein eigenes Schreien geweckt haben. Jacob schläft ungestört weiter, aber die Luft vibriert gleichsam noch von meinem Schrei. Ich habe ständig dieses eine Wort im Ohr: Wagner. Ich mag Wagner nicht. Ich verstehe ihn nicht. Ich versuche, mich an eine Melodie zu erinnern, aber sie entgleitet mir immer wieder.
    Solange dieser Mann auf freiem Fuß ist, sind wir in Gefahr, ist Tess in Gefahr, Mitch, Jacob, Iezebel, ja sogar Tara. Solange er lebt, sind wir in Gefahr.

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