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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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ich ungefragt auf mich nahm, die spillerige Kostbarkeit vom Nachttisch und legte sie mit klopfendem Herzen ein sicheres Stück vom Rand weg, stolz und überzeugt davon, dass ich die Brille damit vor dem sicheren Todessturz in den Abgrund bewahrt hatte.
    Ich weiß noch gut, was für ein gruseliges Gefühl es war, das verbotene Kleinod in meinen schwitzigen Kinderfingern zu halten (so dünn, so zart, so teuer), wobei ich schon ein triftiges Alibi einübte, falls mich jemand überraschen sollte. Auf Zehenspitzen schlich ich mich danach aus dem Zimmer.
    Es vergingen Stunden, wir aßen zu Mittag, Tara und ich spielten Krankenhaus – die Harmonie war inzwischen wiederhergestellt. Mein Vater kam nach Hause. Er ging in sein Zimmer, ich hörte die drei Schlösser von seiner Tür. Tara war die Krankenschwester, ich war die Patientin. Es half alles nichts, sie musste mir eine Spritze geben. In die rechte Pobacke. Komm, leg dich mal auf den Bauch.
    Ein Brüllen von oben ließ mich vor Schreck hochfahren.
    »WER HAT MEINE BRILLE ANGEFASST?!«
    Mein Vater kam die Treppe heruntergedonnert. Tara und ich mussten zu ihm kommen. Die dünnen Spinnenbeine der Brille waren verbogen, ein Glas war aus der Fassung gefallen.
    Mit offenem Mund schaute ich auf die Verwüstung.
    »Wer hat das gemacht? Tara?«
    Tara schüttelte ernst und sehr überzeugend den Kopf. Hier stand ein Mädchen, das nie zuvor eine Brille gesehen hatte, das war eindeutig. Aber Sara, die hatte ja so einen roten Kopf!
    »Sara? Hast du meine Brille angefasst? Sag die Wahrheit!«
    Ich legte meine Erklärung ab, mit allen Details, Nachttisch, Abgrund, Rettung, gerade noch rechtzeitig – nur weggeschoben, mit zwei Fingern. Für meine Eltern ein Schuldgeständnis, nicht mehr und nicht weniger. Mir glühte das Herz in der Brust – ob der Ungerechtigkeit, des Unverständnisses.
    Für Vernunft oder eine gründliche Untersuchung war keine Zeit – die Strafe folgte in Form von Flüchen und dem Schrei: »Ab in dein Zimmer!«
    Tara durfte mit ihrem Plastikstethoskop weiterspielen.
    150
     
    Jetzt, da ich das aufschreibe, in unserem neuen Haus in Amerika, muss ich einräumen, dass vielleicht noch nicht restlos alles erzählt ist. Dass hier und da etwas fehlt – nicht zuletzt, weil ich selbst anfangs einiges übersehen habe. Das ist zum Teil meine Schuld. Hybris. Nicht alle Sinne ausreichend geschärft. Scheuklappen – so nennt man das doch wohl? Mütterliche Scheuklappen oder auch die einer Tochter, das ist die Frage.
    Ziemlich kurzsichtig, ja absurd war es, anzunehmen, dass wir je »fertig« sein würden mit einer Geschichte wie der unseren. Eine so urplötzlich in Blut getränkte Geschichte kann nie abgeschlossen sein, auch wenn noch so herausfordernd ENDE darunter steht.
    Dass wir, die Hauptfiguren, freundliche Menschen, die in der Regel keiner Fliege etwas zuleide tun, dass wir uns ohne Reue oder unerträgliche Gewissensbisse zur Gewaltanwendung hinreißen lassen würden, ist doch kaum vorstellbar, oder? Mord ist eine ernste Angelegenheit.
    Tara und Iezebel konnten sich nur schwer damit abfinden, dass wir nach Amerika zogen, aber Jacobs Assistent fand in Santa Monica ein Haus mit separatem Gästetrakt, wo sie beide wohnen konnten, sooft sie wollten.
    Neben der Unterbringung von Tess auf einer privaten Mädchenschule, der Einrichtung des neuen Hauses und zögerlichen ersten Schritten zu dem Buch über Zewa, meine vergessene Oma, das ich schon so lange schreiben wollte, hielt mich in den USA auch gleich das heftige neue Leben von Mitch in Atem.
    Übers Internet lernte ich viele andere Mütter von jungen Marines kennen. Bei aller Verschiedenheit unseres Hintergrunds oder unserer gesellschaftlichen Stellung hatten wir eine gewisse exaltierte Emotionalität gemein und einen der Außenwelt wahrscheinlich übertrieben erscheinenden krampfhaften Optimismus. Allesamt überschlugen wir uns fast vor Tapferkeit.
    Was mich allerdings von den meisten von ihnen unterschied, zumindest noch, war, dass ich meine Ängste nicht wie sie mit christlicher Religiosität beschwor. Aber wenn man im Internet verfolgte (und wenn man in diese Gruppe aufgenommen worden war, tat man das jeden Tag), was manche Eltern an Schrecklichem zu verdauen hatten, konnte man es ihnen nicht übelnehmen, dass sie auf eine höhere Macht vertrauten – viele der Ängste und Qualen, in die ich eingeweiht wurde, waren einfach zu groß für einen gewöhnlichen Menschen.
    Nicht selten erfüllte es mich mit Bitterkeit, dass

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