Der Sohn (German Edition)
zum Töten bestimmt – es sind neue Patronen darin. Ich frage mich, ob er sie wohl je so in der Hand gehalten hat wie ich jetzt. Ob er je drauf und dran war, sich bis zum wirklichen, bitteren Ende damit zu verteidigen. Ob mein Vater je erwogen hat, Raaijmakers zu erschießen? Hat er sie deshalb mit neuer Munition geladen – weil er Angst hatte? Ich weiß so vieles nicht. Was hat diese Pistole gesehen, was hat sie mitgemacht? In wessen Händen hat sie ungeduldig, gierig auf das Auslösen des Schusses gewartet?
Ich atme tief durch, lehne mich kurz an die Hauswand, unsichtbar, wie ich hoffe, in meiner schwarzen Kleidung im Dunkeln. Ich wiege die Waffe in der Hand. Tess wäre mit diesem Tod geholfen, sage ich mir noch einmal. Sie würde zur Ruhe kommen. Ach, wie sehr würde sie helfen, diese eine fatale Kugel in Raaijmakers’ Brust: Das wäre das Ende ihrer Angst. Sie könnte allmählich wieder zu der Tess werden, die sie vorher war.
Er und sein Hass sind unser Gefängnis, sein Tod wird uns befreien. Und ihn von seinem verkorksten Leben erlösen.
Aber das denke ich an einer leeren und kalten Stelle in meinem Geist. Wohin ich zu selten komme, um mich dort wohl zu fühlen.
Kann ich so sein? Kann ich jemand sein, der mordet? Kann ich so leben? Ich zittere immer noch heillos.
Und eine andere Frage drängt sich auf. Kann Tess zur Ruhe kommen, wenn ich es nicht kann, weil mich auf ewig Gewissensbisse plagen? Und was, wenn ich gefasst werde?
Ich weiß auf einmal nicht mehr, ob mein Hass groß genug ist.
Wie armselig! Wenn mein Hass nicht groß genug ist, kann meine Liebe es dann sein? Liebe ich genug, wenn ich nicht für meine Liebsten töten kann?
Ich denke an die Worte meines Vaters über die Muselmänner. An Vergebung und menschliche Güte. Macht ein Schuss einen Muselmann aus mir? Macht Rache mich zur Verliererin? Oder will ich mir das nur einreden – feige, wie ich bin?
Mein Vater schweigt, irgendwo da oben über mir. Vielleicht weiß er auch nicht mehr weiter.
Ich drehe mich um, die Tränen durchnässen den Strumpf, den ich mir übers Gesicht gezogen habe, und machen ihn undurchsichtig. Ich beginne zu laufen, zu rennen, ich renne die Straße hinunter, weiß einen Moment lang nicht mehr, wo ich bin, und stehe plötzlich an der Schnellstraße. Wild reiße ich mir den Strumpf vom Kopf, der klebt und mein Gesicht verzieht.
Ein Auto hält neben mir, eine Tür geht auf. Ich will schreien und panisch davonspurten – als ich eine bekannte Stimme höre, nein, zwei Stimmen.
»Saar! Steig ein!«, flüstern sie.
Mitch sitzt am Lenkrad, Jacob neben ihm.
147
Mitch, dessen Schlafrhythmus genauso durcheinander ist wie meiner, hat mich von seinem Fenster aus in Jogging-Outfit weggehen sehen. Er habe zuerst gedacht, ich würde schlafwandeln, erzählt er. Aber dafür hätte ich mich zu sorgfältig angezogen. Es musste also etwas anderes im Busch sein.
Er hat Jacob geweckt, was seltsamerweise gar nicht schwer war. Jacob hat sofort eine Vermutung geäußert, wohin ich wohl wollte. Er hatte einen Zettel mit einer Adresse neben meinem Laptop gefunden.
»Ich kann und will sie nicht aufhalten«, hat Jacob gesagt. »Aber wir müssen ihr nach.«
»Was will sie denn da?«, hat Mitch gefragt.
»Was meinst du wohl?«, antwortete Jacob.
Und da hat Mitch sofort genickt.
Weil sie mich unterwegs nirgendwo gesehen haben – ich habe auf dem letzten Stück einen Umweg gemacht, ich habe keinen sonderlich guten Orientierungssinn –, sind sie in Panik geraten. Auf gut Glück haben sie daraufhin in der Straße auf mich gewartet, die ich auf dem Zettel notiert hatte.
Jacob versucht die Atmosphäre im Auto zu beschreiben, als sie mich dann entdeckt haben, als schwarzen Schatten, der sich an den Häusern entlangdrückte. Trotz der Dunkelheit hat Mitch im Licht der flackernden Straßenlaterne bemerkt, dass ich etwas unter meiner Jacke versteckte. Und aus der Form haben sie beide gefolgert, was es war. Sie haben die Luft angehalten und sich nicht zu rühren gewagt.
»Holy shit«, hat Mitch gemurmelt. »Sie tut es wirklich.«
Mitch dreht sich zu mir um.
»Wenn du geklingelt oder an die Tür geklopft hättest, wäre ich aus dem Wagen gesprungen«, sagt er. »Darauf kannst du Gift nehmen.«
Ich glaube ihm. Insgeheim wünschte ich, ich hätte mich getraut. Ich wage nicht zu fragen, aber ich hätte gern gewusst, was Mitch getan hätte, wenn ich mit gezogener Pistole vor Raaijmakers gestanden hätte.
»Ich auch«, sagt Jacob.
Ich
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