Der Sohn (German Edition)
sondern leibhaftig – wie eine Infrarotkamera kann ich mein Objekt auch bei Dunkelheit anvisieren. Mein Mund wird trocken. Mein Herz schlägt flach und schnell. Ich schwitze noch mehr. Jetzt kommt der Moment.
Mit einiger Mühe bekomme ich die Pistole aus der Tasche, während ich langsam weitergehe, normal, entspannt, als wollte ich dem Nachbarn eine Packung Kaffee bringen. Ich habe die Waffe in der rechten Hand, und die halte ich unter der Jacke versteckt. Sicherheitshalber habe ich mir die Strumpfhose übers Gesicht gezogen und mir meine schwarze Schirmmütze tief in die Stirn gezogen. Es ist zwar dunkel, aber wenn er mir öffnet, macht er bestimmt Licht.
Ich schwöre es, erst als ich vor seiner Tür stand, wurde mir bewusst, dass ich noch nie im Leben einen Schuss ausgelöst hatte.
Mein Zeigefinger am Abzug der Pistole verkrampft sich sofort. Wie kriege ich ihn vor die Flinte, soll ich klingeln? Oder anklopfen? Wie macht man das? Und wo genau sitzt das Herz? Wie töte ich ihn mit nur einem Schuss? Wie komme ich danach weg? Wird er nach vorn oder nach hinten fallen? Angenommen, er fällt vornüber vor die Tür, wie bekomme ich ihn dann ins Haus zurück, ohne Spuren zu hinterlassen? Spuren! Ich trage Sportschuhe mit Profilsohle – das werden sie ausfindig machen! Ich habe Matsch an den Schuhen. Womöglich hinterlasse ich sogar DNA -Spuren. Wem ist damit geholfen, wenn ich selbst hinter Gitter wandere?
Beruhige dich! Wie gut sind die denn bei der Polizei? Wissen die etwa von Spermaspuren im Gästezimmer, Haaren, Hautschuppen? Haben sie das untersucht – all diese Abfallprodukte des fortwährenden Prozesses von Absterben und Erneuerung, der Leben heißt? Weiß ich überhaupt alles? Werden wir wirklich auf dem Laufenden gehalten? Womöglich werde ja auch ich überwacht?
Mir wird eiskalt nach der ganzen Schwitzerei, und ich fange wie verrückt an zu zittern – jetzt erst dringt so richtig zu mir durch, wo ich bin und was ich tue. Wie komme ich dazu, warum bloß überlasse ich das denn nicht der Polizei?
Ich habe doch tatsächlich gerade Überlegungen angestellt wie ein Krimineller – Spuren, Maskierung, Timing. Wie ist es so weit gekommen? Das kann ich doch nicht, das darf ich doch nicht! Wäre es nicht besser, wenn ich mich wie die Protagonistin in Disgrace in mein Schicksal ergebe, so schmerzlich es auch ist?
Allein schon dieses Wort, disgrace. Das Gegenteil von allem, was im Leben wertvoll ist: Liebe, Anmut, Anstand, Würde. Disgrace: die Vergewaltigung all dessen. Schande, Scham, Entwürdigung – all das bedeutet disgrace. Die erwachsene Tochter der Hauptfigur in Coetzees Roman akzeptiert ihre disgrace, als wäre es kein himmelschreiender Skandal, dass sie vergewaltigt und dadurch geschwängert wurde, dass man ihre Hunde erschossen hat und sie auf ihrer eigenen Farm die Rolle der Untergebenen spielen muss. Sie fügt sich in ihr Schicksal, als sei sie der Meinung, dass sie es nicht besser verdient habe, und zuletzt, anfangs gegen seinen Willen, fügt sich auch ihr Vater in das seine.
Welch grenzenlose Tristesse.
Keine Rache, keine Vergeltung. Er fügt sich in die Ungnade, in die er gefallen ist, und das ist letzlich auch wieder eine disgrace. Was gerecht wäre, ist nicht mehr relevant. In dieser Geschichte entspringt das dem Schuldgefühl der Weißen in Südafrika, der Erkenntnis, nichts gegen die gesellschaftlichen Kräfte ausrichten zu können, zwischen deren Fronten beide Hauptfiguren ungewollt geraten sind. Und vielleicht auch der Skepsis gegenüber den Folgen, die »Gerechtigkeit« und »gerechte« Strafe letztlich für den Lauf der Geschichte und das eigene Wohl haben würden. Er und seine Tochter wissen: Wenn wir hierbleiben wollen, werden wir das alles ertragen müssen. Wenn wir dazu nicht bereit sind, bleibt kein anderer Weg, als weit von hier wegzugehen. Rache führt nur zu noch mehr Blutvergießen.
Führt der Tod von Raaijmakers, der meine Tochter und mich vergewaltigt hat, in Wort und Tat, der meinen Mann niedergeschossen und vielleicht auch den fatalen Sturz meines Vaters auf dem Gewissen hat – führt der Tod eines solchen Menschen zu noch mehr Blutvergießen?
Nein. Das muss nicht so sein, denke ich verzweifelt. Die Pistole ist so schwer, dass meine Hand schon ganz steif ist. Das muss nicht so sein, wenn keiner weiß, wer es getan hat.
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Noch einen Moment bemühe ich mich nach Kräften, die Pistole beruhigend auf mich wirken zu lassen. Sie war die Pistole meines Vaters. Sie ist
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