Der Sohn (German Edition)
sehe, dass er zittert.
Während der Rückfahrt lege ich die Pistole neben mich auf die Sitzbank. Mitch greift danach, während er fährt, und schaut sie sich an. Auch Jacob wirft einen Blick darauf.
»Mensch, Mama«, sagt Mitch.
Ich sehe ihn über den Rückspiegel an. Er lächelt kurz. Nicht spöttisch, nicht beunruhigt. Es ist ein ernstes, trauriges Lächeln, das ihn um Jahre älter macht.
Jacob streckt den gesunden Arm nach hinten und fasst meine Hand. Umdrehen kann er sich wohl nicht, das lassen seine Verletzungen wahrscheinlich noch nicht zu.
»Saar«, sagt er. »Du wusstest es vielleicht schon, aber sicherheitshalber möchte ich es noch einmal klar und deutlich gesagt haben.«
»Ja?«
»Dass ich dich liebe.«
Ich drücke seine Faust an die Lippen.
148
Als wir zu Hause sind, bin ich so erschöpft, dass ich an Jacob geschmiegt sofort in tiefen Schlaf sinke. Trotz der verlorenen Kilos ist zum Glück noch so viel von ihm übrig, dass es herrlich ist, bei ihm Halt zu suchen. Ich fühle mich fast geborgen.
Am nächsten Tag stehen wir erst gegen elf Uhr auf. Mitch und Tess sogar erst gegen zwölf. Tess hat die ganze Nacht durchgeschlafen – wir sind froh darüber. Sie hätte eigentlich in die Schule gemusst, aber dafür ist es jetzt zu spät. Und wo Mitch jetzt da sei…, sagt Tess.
Mir ist ohnehin wichtiger als alles andere, dass sie nicht mehr ganz so leichenblass aussieht. Ich dagegen fühle mich matter denn je.
Dann kommt meine Mutter zu Besuch, wir müssen einkaufen gehen, eine neue Putzfrau muss eingewiesen werden, so dass ich mich erst gegen drei Uhr nachmittags daran erinnere, dass ich einen Beschluss gefasst hatte. Das muss heute noch geschehen, und nicht morgen.
Das Einzige, was ich nach der letzten Nacht mit Sicherheit weiß, ist, dass der Tod nicht unsere Sache ist, nicht in unseren Händen liegt – Menschen wie wir können mit so etwas nicht leben. Wenn mein Vater mir eine Philosophie mit auf den Weg gegeben hat, dann die, dass man in allem sich selbst treu bleiben sollte, seiner Würde und dem, was man gelernt hat. Vielleicht reicht es uns ja auch, wenn wir ein paar Jahre Luft haben – vielleicht kommt Raaijmakers hinter Gittern ja zur Besinnung.
Ich habe einen Termin bei der Polizei vereinbart. Allein. Um zu reden.
Bevor ich aus dem Haus gehen kann, ruft Gerard Koornstra an.
Seine Stimme klingt anders als sonst, schneller, geschäftsmäßiger. Ob ich mit Jacob zusammen kommen könne, bittet er. Es gebe unerwartete Entwicklungen, die er uns persönlich mitteilen wolle, bevor wir sie womöglich aus der Zeitung erführen. Er möchte auch, dass wir einige Sachen identifizieren. Meine Rückfrage, ob er vermute, dass es sich dabei um unser Eigentum handeln könnte, bejaht er.
Ich stoße einen Freudenschrei aus und frage, was denn passiert sei.
»Es hat einen Mord gegeben«, antwortet Koornstra.
»Wer ist denn tot?«, frage ich sofort. Ein Wunder, dass ich mich noch so tadellos artikulieren kann.
Es handle sich um einen gewissen Anton R., höre ich von Koornstra, nicht vorbestraft, aber man habe »ein Auge auf ihn gehabt«.
»Sieht aus wie eine Abrechnung«, sagt er.
149
Als Fünfjährige sah ich einmal die Lesebrille meines Vaters gefährlich nah am Rand seines Nachttischs liegen. Es war eine zerbrechliche, teure Brille, mit Bügeln wie Spinnenbeine.
Tara und ich durften nichts von meines Vaters Sachen anrühren, weder seine Füllfederhalter noch seine Bücher, noch seinen Plattenspieler, ja nicht einmal seine Zimmertür – womit alles, was in seinem Zimmer war, automatisch für uns tabu war, und das Nonplusultra war sein Schreibtisch (den Grund für dieses Verbot kenne ich inzwischen nur allzu gut).
Was, wenn diese Brille jetzt ganz plötzlich vom Nachttisch fällt und zerbricht!, dachte ich, und mir wurde ganz heiß dabei. Mein Vater wäre bestimmt fassungslos, und, noch schlimmer: Er könnte vorläufig nicht mehr lesen! Auch war ich mir jetzt schon sicher, dass mir die Schuld an der kaputten Brille gegeben würde oder Tara – Letzteres war Ersterem übrigens bei weitem vorzuziehen.
Tara und ich hatten uns am Tag davor gestritten, und ich war noch ein bisschen zittrig von der Wut, die das bei meinem Vater ausgelöst hatte, obwohl er uns inzwischen offiziell vergeben, beziehungsweise auf Kaution freigelassen hatte. Ich war daher mehr als bereit, etwas zu tun, was meine Position als die bessere Tochter untermauern würde. So hob ich im Bewusstsein der Verantwortung, die
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