Der Sohn (German Edition)
geraten. Da staunst du, was?« Und dann reißt er mir mit einem Ruck das Goldkettchen mit dem hebräischen Symbol Chai als kleiner goldener Anhänger ab, das ich vor neunzehn Jahren zu Mitchs Geburt geschenkt bekam. Chai bedeutet Leben. Ich falle beinahe um. Ich rieche den Atem des Mannes, säuerlich, chemisch, und muss würgen. In den Tiefen meines Körpers höre ich mein Herz schlagen, hart und laut wie ein geheimer Gong. Tränen brennen hinter meinen Augen. Ich habe es mir also nicht eingebildet. Er hat wirklich mit dem Wagen auf mich zugehalten. Auf mich, Sara. Vielleicht ist er sogar gezielt hierhergekommen, er wusste ja offenbar, dass ich hier jogge. Er kennt mich, er will mir etwas antun. Wenn ich mit diesem Gong doch jemanden alarmieren könnte! Unter der Bedrohung wird mein Körper zu einem Kind, das ich beschützen muss, einem hilflosen Kind, so muskulös und durchtrainiert er auch sein mag.
Der Mann ist so nahe, dass er mir die Gurgel zudrücken könnte, wenn ich eine falsche Bewegung mache. Aber er rührt mich nicht an. Formell verkehren wir noch in einer Phase des Taktierens und Abwartens. Wenn ich Ruhe bewahre und mich in den Griff bekomme, könnte noch alles gut ausgehen. Aber die Angst, die Wut, die Beschämung, die unglaubliche Tatsache, dass er meinen Namen kennt, mein Kettchen zerrissen hat – ich höre es mich schon erzählen. Jacob, wo bist du?
»Und jetzt will ich gerne mal wissen, was du mir denn sagen wolltest, mit deinem Händchen!«
»Das ist doch jetzt ganz egal«, flüstere ich zitternd. »Sie sind zu schnell gefahren. Ich habe mich erschrocken…«
Mit einer blitzschnellen Bewegung pflanzt er links und rechts von meinem Kopf seine Hände auf den Baumstamm. Ich versuche, unter seinem Arm hindurchzutauchen. Da drückt er die Unterarme gegen meinen Hals und sieht mich gespannt an. Ein Wolf, der seine Beute in Augenschein nimmt, um zu entscheiden, welches Stück er zuerst fressen wird.
»Was?«
»Bitte?«, flehe ich, und mir entwischt ein Schluchzer, für den ich mich hasse.
Ich probiere, mich nach unten rutschen zu lassen, aber er drückt mich mit seinem vollen Gewicht gegen den Baum, gibt nicht einen Zentimeter nach. Und trotzdem denke ich immer noch, dass er mich nur einschüchtern will. Ich habe so viel über das Böse gehört, und dennoch geht mir nicht auf, dass ich ihm jetzt ins Auge sehe.
»Was wollen Sie von mir?!«
»Bitte?«, äfft er mich nach. »Du machst mir Spaß. Dachtest wohl, du könntest hier Polizei spielen und mir einfach mal ’nen Vogel zeigen?! Aber du hast schon verstanden, hm? Dass ich mir das nicht bieten lasse. Dass du dir das bei mir nicht erlauben kannst. Wenn du mich verarschen willst, musst du schon ein bisschen schneller rennen können.«
Ich höre ein Pfeifen im Kopf, hoch und durchdringend. Ich denke an alltägliche Dinge: Die Verabredung nachher, muss ich die jetzt absagen? Was koche ich morgen, ich habe Leute eingeladen – Fleisch oder Fisch, grille ich die Spargel mit Balsamico? Wie mager eine Freundin durch eine reine Eiweißdiät geworden ist. Ich habe den Termin beim Zahnarzt gestern vergessen! Den Artikel, an dem ich zurzeit schreibe, ein Interview mit einem Biographen. Textpassagen, die ich zuletzt überarbeitet habe, ich sehe das Satzbild nahezu wortwörtlich vor mir. Meine Füße und Knöchel sind gefühllos.
Der Mann schlägt mit der flachen Hand auf den Baumstamm, dicht neben meinem Gesicht. Ich versuche die Gelegenheit dazu zu nutzen, seiner Umklammerung zu entkommen. Zu spät, er rammt mir sein Knie zwischen die Beine und drückt den Oberschenkel hart gegen mein Schambein.
Ich schreie unwillkürlich auf, vor Schmerz und Schreck, und er lacht. Ich setze alle Kraft, die noch in mir steckt, daran, mich ihm zu entwinden. Panisch merke ich, wie sehr mich sein Knie festnagelt, sein Brustkasten einzwängt. Er hält jetzt meine Arme fest. Ich versuche ihn zu beißen.
»Bitch«, schimpft er.
Er verpasst mir einen seitlichen Kopfstoß, trifft meinen Mund, seine Sonnenbrille verletzt mich, ich schmecke Blut, den intimen Erdgeschmack seines fettigen weißen Haars, seine Haut an meinem Zahnfleisch.
»Fühlst du das?«, keucht er.
Und ob ich fühle, wie er hart gegen meinen Unterleib pumpt, den Mund keuchend an meiner Stirn.
Das war es also. Ich sehe mich hilfesuchend um, die Natur ist unverändert, aber ihre Stille ist jetzt so grausam. Weit und breit kein Mensch. Genau das würde passieren, genau davor wird ein Mädchen gewarnt, sowie es
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