Der Sohn (German Edition)
natürlich sichtbar ungewöhnlich. Der Fremde könnte die Polizei rufen. In meiner Panik fürchte ich zunächst noch, dass der Mann, der jetzt aufgetaucht ist, zur Verstärkung meines Angreifers gekommen sein könnte.
»Hallo?«, höre ich ihn noch einmal von der Straße her rufen.
Ich knurre unter der Hand, beiße, strample wie wild, um mich zu befreien – und mit einem Mal ist alles vorbei, weil er weg ist.
»Hilfe!«, schreie ich erneut. »Halten Sie den Mann, halten Sie ihn!« Aber es ist, als hätte ich keine Stimme mehr.
Ich will aufstehen, doch ein stechender Schmerz in meinem Fußgelenk lässt mich zurückfallen.
Mein Angreifer geht unterdessen geschäftigen Schrittes auf einen Radfahrer zu, wie ich durch Sträucher und Geäst hindurch sehe, und steht ihm äußerst korrekt und manierlich Rede und Antwort. Ein beschwingter Samariter. Diese teuflische Doppelgesichtigkeit – das muss ich mir merken. Noch einmal versuche ich aufzustehen, aber mein Fußgelenk macht nicht mit, und ich schreie auf vor Schmerz.
»Die Frau da ist im Wald gestürzt, ich habe nachgeschaut, ob sie sich auch nichts Ernstes getan hat«, sagt er zu dem Radfahrer, einem dicken Mittfünfziger.
»Er lügt!«, schreie ich. Inzwischen habe ich mich hochgerappelt und hinke auf sie zu. »Halten Sie ihn fest! Er hat versucht, mich umzubringen!«
Der freundliche Dicke blickt verdutzt zwischen meinem Angreifer und mir hin und her. Er runzelt die Stirn.
Der Vergewaltiger lacht mitleidig.
»Sie ist ein bisschen… durcheinander, glaube ich«, sagt er spöttisch. »Sie hat sich wohl das Knie verletzt, aber von mir helfen lassen wollte sie sich nicht. An Ihrer Stelle würde ich mich vorsehen. Womöglich beschuldigt sie Sie auch noch!«
In aller Seelenruhe geht er zu seinem Auto.
Der Radfahrer blickt verständnislos und auch ein wenig misstrauisch.
»Lassen Sie ihn nicht entkommen!«, schreie ich. »Halten Sie ihn auf!«
Noch nie habe ich mich so machtlos und lächerlich gefühlt. Mein Mund blutet, wie ich jetzt schmecke.
»Heee!«, ruft der verunsicherte Dicke meinem Angreifer nach. Doch der sitzt schon in seinem Wagen, startet und setzt zurück. Während der Dicke endlich zu erfassen scheint, was los ist, ist der andere schon mit röhrendem Motor und kreischenden Reifen auf und davon.
Binnen einer Sekunde ist nichts mehr von ihm zu sehen.
28
»Hinterher!«, rufe ich. »Notieren Sie sein Kennzeichen!«
Der Dicke läuft ein paar Schritte, eine unnütze Geste, blickt in die Ferne, wo der Wagen verschwunden ist, und kommt wieder zurück.
»Zu spät«, sagt er und zieht hilflos die Schultern hoch. »Hat keinen Sinn. Der ist weg. Du meine Güte!«
Ein wenig ängstlich schaut er mir ins Gesicht – der Tannenzapfen muss meine Mundwinkel aufgerissen haben, mein Auge könnte blau sein. Dann wendet er den Kopf wieder der imaginären Staubwolke zu, die der Wagen hinterlassen hat. Mit meiner Schreierei bin ich für ihn wohl nicht weniger furchteinflößend als der rasende Teufel, der gerade abgehauen ist.
»Sie kennen den Mann also nicht?«, fragt er unsicher. »Hat er Ihnen also nicht geholfen? Vielleicht kann ich Ihnen helfen? Soll ich die Polizei anrufen? Sie sind, glaube ich, in keiner guten Verfassung.«
»Haben Sie sein Kennzeichen?«, frage ich.
Nein, hat er nicht. Begreift er es immer noch nicht?
Ich hinke näher zu ihm hin und entblöße meinen Rücken.
»Hier, sehen Sie, was er getan hat!«, rufe ich.
Ich befühle mein Gesicht, es blutet. Fasse an meinen Hals. »Er hat meine Kette gestohlen!«
Mein Fußgelenk scheint nicht mehr Teil meines Körpers zu sein. Es ist dick angeschwollen und seltsam blau-gräulich verfärbt. Nicht mehr zu gebrauchen, und es tut unglaublich weh.
Der Dicke tritt auf mich zu. Er will mir wahrscheinlich nur die Hand reichen, aber ich pralle zurück.
»Fassen Sie mich nicht an!«, keuche ich. »Bleiben Sie stehen!«
Er hat ein Handy bei sich.
Ich erzähle Jacob, dass ich angegriffen worden bin, weil ich mir vor die Stirn geschlagen habe. Er ist außer sich. Wie konnte ich das nur machen! Und dann regt er sich darüber auf, dass ich das Kennzeichen von dem Typ nicht gesehen habe.
Ich bin froh, dass ein wütender Jacob zu mir unterwegs ist. Davon hat man was. Ich habe nicht erzählt, dass der Mann mich vergewaltigt hat, das heißt, so gut wie. Ich habe nur meinen Knöchel erwähnt.
Der dicke Radfahrer heißt Flip van der Meer, und er beliefert Reitställe mit Hafer. Er war gerade unterwegs zu
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