Der Sohn (German Edition)
und springe, dem davonfahrenden Wagen nachschauend, wütend auf und ab, wobei ich mir weiter demonstrativ vor die Stirn schlage. Das Kennzeichen des Wagens kann ich ohne Brille nicht erkennen, aber die Marke, es ist ein vw, schmutzig weiß. Er scheint jetzt nicht mehr so schnell zu fahren, denn ich habe ihn immer noch im Blick, während er sich doch vor kaum einer Minute wie aus dem Nichts materialisierte.
Mir schwant plötzlich Unheil, und ich drehe mich um und spurte los, schnell, schneller, so schnell, wie ich noch nie gerannt bin. Meine Beine geben ihr Bestes, eine Minute, zwei Minuten lang, dann ist es, als füllten sie sich mit einer zähflüssigen Substanz wie warmer Honig, die sie zu bremsen scheint. Bremsflüssigkeit. Noch singt das Auto in der Ferne. Mit schwereren Beinen als je zuvor renne ich, was das Zeug hält – und höre, was ich schon befürchtet hatte.
Welche Ironie: dass der kurze Moment der Stille, derselben Stille, die gerade eben noch so friedlich war, nun so unheilvoll ist. Ich sehe, was Menschen wie mein Vater, Menschen, die immer an das Schlimmste denken, sofort vor Augen haben. Schreckensszenarien, mit fotografischer Präzision ausgemalt.
In diesem Fall sind es die quietschenden Reifen eines Autos, eines Autos, das abrupt bremst und wendet.
Es war nicht genug. Es kommt noch mehr.
23
Noch schneller kann ich nicht rennen. Meine Beine sind bleiern, und ich kann tun, was ich will, ich bin zu langsam. Wie soll man auch den Vorsprung gegen ein Auto halten, das voll aufgedreht wird?
Es kommt hinter mir her, mit seinem Singsang aus surrenden Reifen, verbrennendem Benzin, Stahl. Blöd, diese beschwingte Melodie.
Irgendwer gießt etwas Schweres in mich hinein, ich fühle, wie es in meinen Magen läuft, ein Ballon, der mit Wasser gefüllt wird.
Wann wird man sich bewusst, dass etwas wirklich schlimm ist, wenn einem so eine Erfahrung bisher immer erspart geblieben ist? Der Motor des Wagens wird noch eine Oktave höher gedreht, klingt aggressiver, hysterischer, näher, und da erst wird mir bewusst, dass selbst meine schlimmsten Phantasien überstiegen werden.
Das passiert, wenn du schutzlos bist, wenn niemand mehr auf dich aufpasst. Ich renne nach links, möglichst weit zum Stacheldrahtzaun hin, der den Wald einfasst. Hier kommt er mit seinem Auto nicht hin, denke ich. Ich entsinne mich, dass hier irgendwo ein inoffizieller Reitweg abzweigt, vielleicht nur ein paar Meter weiter, aber ich sehe ihn nicht. Ich bin auf diesem Weg gefangen, es gibt keinen Ausweg.
Plötzlich eine Art Sonnenfinsternis, die Verdunkelung durch einen Schemen aus schmutzig weißem Lack.
Der Volkswagen.
Er wird wild nach links herumgerissen und verstellt mir den Weg. Sofort geht die Tür auf, und ein großer Kerl steht da, als wäre er vom Wagen ausgespuckt worden.
24
Ja, groß ist er, daran erinnere ich mich nur zu gut. Er dürfte Ende fünfzig sein, trägt Jeans, schwarze Sportschuhe, hellbraune Lederjacke. Mit seinem Hundegesicht und der schwarzen Sonnenbrille hat er was von Derrick, aus der deutschen Krimiserie. Strohiges weißgraues Haar, das unter einer Kappe hervorschaut, auf die er eine Sonnenbrille gesetzt hat (noch eine!). Er verschränkt die Arme vor der Brust, langsam, grinsend und bedrohlich, sehr bedrohlich – Bühne frei, hier komme ich!, wie im Theater, aber das hier ist kein Spiel. Ich bin gezwungen, stehen zu bleiben, will kehrtmachen, sage mir aber, dass er mir dann auch wieder nachjagen wird.
Ich komme mir vor wie ein verängstigtes Tier, ein kleines Tier im Stroboskoplicht, mit meinen ruckartigen Bewegungen, meinem hin- und herflackernden Blick, Schlupflöcher im Belagerungswall suchend, Fluchtwege, notfalls auch Anknüpfungspunkte für ein Gespräch. Das hier muss ein Missverständnis sein, ich muss mich beruhigen, das kann doch nicht wahr sein.
Schweißnass, das bin ich auch, der Beinansatz der kurzen Radlerhose feucht, mein ungeschminktes Gesicht glänzend, das verschwitzte Haar darum herum verklebt. Schutzlos, keinerlei Verkleidung.
Das Auto blockiert den Weg. Ich versuche erneut, das Kennzeichen zu entziffern, doch dafür steht der Wagen zu schräg.
Jetzt seufzt der Mann ganz tief und misst mich mit seinem Blick. Darin liegt eine kalte Zufriedenheit, die ich mir nicht erklären kann. Weil er mich gestellt hat? Auch den aggressiven Zug um seinen Mund kann ich nicht deuten – unverhältnismäßig. Dass er mich fast über den Haufen gefahren hat, ließe sich noch bestreiten, aber
Weitere Kostenlose Bücher