Der Sohn (German Edition)
Die meisten Menschen, die ich kenne, wissen gar nicht mehr genau, wer sie vor zehn Jahren waren. Verwirrend. Alle surfen, spielen, kommunizieren per Computer. Nur dann existiert man, ist man ein funktionstüchtiges Rädchen im gigantischen virtuellen Getriebe, das sich hinter dem sichtbaren Alltagsleben verbirgt. Ich komme mir manchmal vor wie ein Relikt aus einem anderen Zeitalter. Als mein Vater noch lebte, hatte diese ziemlich beklagenswerte Haltung noch eine gewisse Berechtigung, weil sie etwas war, was uns verband, aber mit seinem Tod ist mein Alibi für fröhliche Weltfremdheit ein für alle Mal hinfällig geworden.
21
Ich schlage den Waldweg zur nächsten, circa sechs Kilometer entfernten Ortschaft ein. Er führt an einer wunderbar stillen Straße entlang, auf der nur selten ein Auto fährt. Je stiller, desto besser. Ich finde endlich einen guten Laufrhythmus. Die Vorstellung, dass das Früher nach wie vor irgendwo besteht, ist tröstlich, sinniere ich, wenn ich auch manchmal nicht genau weiß, welches Früher, welches »alte« Selbst ich gerne zurückhätte. Meine Kindheit wahrscheinlich? Ich weiß noch unsere erste Telefonnummer, und manchmal bin ich drauf und dran, sie zu wählen, um zu sehen, was passiert. Ob mein altes Leben abnimmt, ich selbst als Achtjährige, meine Mutter mit siebenunddreißig, im Sommerkleid, mit rotem Lippenstift und Wasserwelle im Haar.
Veränderungen habe ich von jeher schwer verschmerzen können. Sogar mein Vater musste darüber lachen. Als er und meine Mutter umzogen, war ich lange untröstlich. Genauso wie damals, als wir aus der Dreizimmerwohnung auszogen, in der wir gewohnt hatten, bis ich sieben war, eine Wohnung mit Kohleöfen. In der neuen Wohnung hatten wir Zentralheizung, aber ich wartete nach wie vor auf das Geräusch der Kohlenschütte, die in den Ofen ausgeleert wird. Und seine Wärme – echte Wärme.
Ich muss oft an eine Gedichtzeile von Lodeizen denken: All diese Dinge geschehen und sind / säuberlich geordnet. Nicht für mich. Ich sehe nirgendwo Ordnung. Sogar die Zeit ist ein Chaos. Und die gesamte Geschichte dreht sich letztlich um Krieg. Ein bisschen Frieden, und dann der nächste Krieg. Wie Kriege entstehen und Menschen aufgrund von Absichten, Plänen, Ideologien sterben – das ist mir ein Rätsel. Dass meine Großeltern wirklich umgebracht wurden, dass sie aus ihrem gesicherten bürgerlichen Leben in den primitivsten, bedauernswertesten Zustand geworfen wurden, den man sich vorstellen konnte, aus dem goldverzierten Konzertsaal in das dreckigste, abscheulichste Loch der Welt, aus dem Leben mit Torte und Vergnügungen in den Tod durch Hunger und Krankheit und Mord und Folter – mein Geist verweigert mir seinen Dienst, wenn ich daran denke.
Den Wind im Gesicht, den Schweiß auf der Haut, der mein Shirt am Körper kleben lässt, begreife ich endlich, vielleicht zum ersten Mal, dass es kein Zurück mehr gibt.
22
Es ist still auf dem Weg, so still, dass ich mich keuchen höre. Seit ich hier eingebogen bin, ist mir noch niemand begegnet. Auch die Straße ist verlassen. Seit hundert Meter weiter, jenseits von einem breiten Wassergraben, eine neue Durchgangsstraße gebaut wurde, wird diese alte Straße kaum noch benutzt.
Die Stille hat etwas Geistesabwesendes, Undefiniertes, sie ist weder erwartungsvoll noch bedrohlich – Naturgemurmel vor dem Hintergrund weit entfernter Verkehrsgeräusche, eines Bahnübergangs, Vogelgezwitscher, das Tropfen des Regenwassers von den Bäumen, ein freundliches, sanftes Gewirr von Nicht-Lärm. Die Natur mutet friedlich an.
Ich soll nur zu bald erfahren, dass dieser Frieden vorübergehend ist. Dass die Stille der Natur zuweilen ihre Nachteile hat.
Das Geräusch manifestiert sich wie ein Schuss, so plötzlich ist es da. Mir ist, als würde mein Herz ein paar Takte aussetzen, als das Auto auf mich zugerast kommt. Ohne die Geschwindigkeit zu drosseln. Im Gegenteil, es scheint, als halte es auf mich zu, absichtlich, oder weil mich der Fahrer nicht sieht.
Ich mache einen Hechtsprung in die Böschung, während ich mir wütend mit der Hand vor die Stirn schlage.
Ich schreie: »Arschloch! Idiot!«
Eine halbe Sekunde lang blicke ich direkt in das Gesicht des Fahrers. Es ist ein Mann, und sein Gesichtsausdruck erscheint mir in dieser Momentaufnahme konzentriert, ja abgeklärt – oder ist das Lust, Vergnügen? Genauso gut könnte es Hass sein, denke ich gleichzeitig. Als er vorüber ist, stürze ich auf die Straße zurück
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