Der Sohn (German Edition)
Versicherungsunterlagen oder Schreiben vom Notar gesucht und es nicht für nötig gehalten, die Tür wieder abzuschließen. Diese Nachlässigkeit ärgerte mich. Vor kaum drei Monaten wäre es noch undenkbar gewesen, dass diese Tür offen stand. Die Tür meines Vaters hatte verschlossen zu sein.
Ich ging hinein, Tempelschänderin.
Das entseelte Zimmer wirkte kleiner – oder war ich gewachsen? Der Schreibtisch war staubig und sah so verwaist aus wie ein Hund, der kraftlos in einer Ecke liegen bleibt, wenn sein Herrchen weggegangen ist. Die Schubladen waren nicht verschlossen, auch so etwas Undenkbares.
Nervös schlich ich näher. Herman, irgendwo da oben im Himmel, war totenstill, als hielte er vor Entsetzen über mein Tun den Atem an. Ich zog eine der Schubladen auf.
Das war gar nicht so leicht, denn sie war randvoll. Beim Aufziehen fiel alles Mögliche zu Boden. Was für ein Chaos. Notizen, Schreiben von der Universität, Artikel, Zeitschriften, Dissertationen.
Ich fragte mich, ob die Studenten die Arbeiten, die hier »aufbewahrt« wurden, überhaupt wieder zu Gesicht bekommen hatten – wie hatte mein Vater bei diesem Durcheinander je etwas wiedergefunden? Irgendein System konnte ich bei dieser Schublade nicht erkennen, und bei den anderen ebenso wenig. Ein unangenehmes Gefühl, da ich doch immer an die Ordnungsliebe meines Vaters geglaubt hatte.
Ganz hinten in der obersten Schublade entdeckte ich eine Ledermappe, die von all den Papieren so zerdrückt und so alt war, dass ich fürchtete, sie werde zerbröseln, wenn ich sie in die Hand nahm. Ich öffnete sie trotzdem, denn unwillkürlich suchte ich jetzt nach den vermissten Briefen aus Baden-Baden, die mir plötzlich wieder einfielen. Die Mappe enthielt einige Durchschläge von Briefen »An das Amt für Wiedergutmachung«, Dokumente und drei Ausweise mit eingestanztem Hakenkreuz und aufgestempeltem J. Da war die Vergangenheit wieder.
Ich schlug den ersten Ausweis auf. Dunkles, rundes Gesicht, markante Nase: mein Großvater, Izak Max Israel Silverstein – »Israel« war die Ergänzung der Nazis für alle jüdischen Männer, Ausdruck der Verachtung für ihre Abstammung. Er sah meinem Vater nur entfernt ähnlich. Sein Blick war unsicher und zugleich herablassend. In den Erzählungen meines Vaters war Izak ein strenger, harter, schwieriger Mann gewesen.
Der zweite Ausweis war der von Federmann. Ilja Norman Israel Federmann. Das also war Federmann. Auch sein Passbild starrte ich an. Sein Name war ebenfalls in den Erzählungen vorgekommen, aber ich hatte noch nie ein Foto von ihm gesehen. Er war bei allem dabei gewesen – und wie meine Großeltern in einem Lager gestorben. Er hatte ein freundliches, wenn auch etwas nichtssagendes Gesicht, aber das hatten ja viele auf ihrem Passbild. Ein Blick, mit dem sie sich präsentieren, aber zugleich vor den Behördenvertretern verbergen, die sich den Ausweis ansehen werden – wohl wissend, dass sie von vornherein verdächtig sind.
Dann starrte ich lange auf den Ausweis von Zewa, meiner Großmutter. Mein Gesicht, nur etwas dunkler getönt: schwarze Augen, dunkles Haar. Zewa Sophie Sara Silverstein, geborene Teubl. Das »Sara« fügten die Besatzer jedem jüdischen Frauennamen hinzu, ein kleines Extra zur Entpersönlichung – eine jüdische Frau war eine Sara. Ein Luxus eigentlich, dass sie zunächst noch so viele Namen tragen durften. Später, im Lager, mussten sie mit einer Nummer auskommen, die ihnen auf den Arm tätowiert wurde, damit sie sie auch ja nie vergaßen. Ich fragte mich, warum meine Eltern mich Sara genannt hatten. Nur Sara, ohne einen zweiten oder dritten Namen. Um den Besetzer schon mal zu narren, falls er wieder ein »Sara« dazusetzen wollte? Sara Sara.
Auf einmal verspürte ich an der Stelle, wo ich meinen Anhänger getragen hatte, ein Brennen am Hals. Das Kettchen war noch immer nicht repariert. Sara. Unwillkürlich betastete ich den roten Striemen, der noch nicht ganz verheilt war. Ich musste mich kurz hinsetzen. Die Stimme von DEM TIER vibrierte in meinem Magen, und eine Welle der Übelkeit schwappte in mir hoch.
Unten hörte ich die Stimme meiner Mutter und das Klappern von Geschirr. Es klang immer lebendiger, als es unten in Wirklichkeit war, aber ich hatte es jetzt trotzdem plötzlich eilig, dabei zu sein, bei meiner Mutter und meinem Kind zu sein, meine Familie um mich herum zu haben.
Ein Ausweis von meinem Vater war nicht in der Mappe.
»Huhu!«, rief ich nach unten. »Ich
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