Der Sohn (German Edition)
der Leitung wurde noch schlimmer.
»Saar? Die Verbindung ist so schlecht. Ich ruf wieder an. Okay?«
»Wie geht es Tess? Wo steckt sie eigentlich?«
Die Verbindung war unterbrochen, und ich hatte keine Lust zurückzurufen.
Inzwischen war ich auf der Oakland Bay Bridge, und vor mir erhob sich die Skyline von San Francisco mit ihren vielen Senkrechten und Schattenwürfen und der in der Sonne schimmernden Stahlkonstruktion der gigantischen Golden Gate.
Bis zum Boot Camp hatte ich noch zwei Monate, um auf Mitch einzuwirken. Das beruhigte mich ein wenig.
Ich fuhr den ganzen Tag in San Francisco herum, eine Stunde lang steckte ich in Staus am Hafen. So schön und freundlich und liebenswürdig es in Berkeley und San Francisco war, es gab auch Viertel, gerade am Hafen, wo es plötzlich ärmlich und schmuddelig und kriminell werden konnte. Ganz so, als kosteten Berkeley seine Bildung und Kultur mit all den subventionierten Universitätsgebäuden voller Hoffnungen und Erwartungen, den Labors, den Internetcafés und Sportanlagen, den angesehenen Restaurants und gemütlichen Bistros ein bisschen zu viel Energie, so dass es nicht verhindern konnte, dass da und dort das Böse aus den Ritzen hervorquoll.
Im sogenannten People’s Park zum Beispiel, wo total verdreckte Stadtstreicher hausten. »People’s Park«, ein zynischer Name für eine Reihe spärlicher Grünflächen und mickriger Büsche im Zentrum von Berkeley. Unzählige Obdachlose verrichteten hier ihre Notdurft, nahmen ihre Drogen und brachten auch hin und wieder mal einen Spaziergänger um. Trotzdem wurde der kleine Park mit allem, was sich darin abspielte, seit Jahrzehnten geduldet, ja sogar nostalgisch als liebgewonnenes Fossil aus der Zeit der großen Autoritätskrisen der sechziger Jahre gefeiert. Kein Student wagte sich nach Sonnenuntergang hier hinein.
Diese Diskrepanz war Mitch zufolge typisch für Berkeley.
Ich war vor Mitch im ›Plearn‹, humpelte an einen der Tische und bestellte ein Mineralwasser. Das große, einfache Restaurant schien sehr beliebt zu sein – wohl wegen der gemäßigten Preise –, denn fast alle Tische waren besetzt. Mein Vater wäre begeistert gewesen: Viel ist gut, war immer sein Leitspruch gewesen. Umso besser, wenn es preiswert war.
Zuerst konnte ich es nicht glauben. Dass jemand Jacob so sehr ähneln konnte. Ich brauchte eine neue Brille, das stand fest. Doch dann verschob sich etwas in der Welt, denn er nickte mir zu, kam die Stufen herauf und trat an meinen Tisch, ganz und gar bekannt. Sein Gesicht konnte die Aufregung über seinen Überraschungscoup nicht verbergen (wie gut ich ihn kannte!). Im ersten Moment verspürte ich so etwas wie Erleichterung, aber dann ärgerte ich mich wie ein Kind, das allein auf Entdeckungsreise gegangen ist und plötzlich bemerkt, dass seine Eltern ihm gefolgt sind.
Nach kurzen Ausrufen umarmten wir uns. Trotz allem war ich froh, dass er da war. Das gab meiner weiten Reise gleich einen Anstrich von Normalität und nahm ihr die Dramatik. Ein wenig von meiner Angespanntheit fiel von mir ab, denn das Alleinsein hier hatte auch die anstrengende Seite, dass ich jede Minute selbst gestalten musste. Ein Gefühl der Geborgenheit stellte sich ein – nur um Haaresbreite von der Beklemmung entfernt, die ich so gut kannte.
Er müsse hier doch einen wichtigen Geldgeber für seinen neuen Film treffen, sagte Jacob lächelnd und mit der Selbstzufriedenheit eines Menschen, der demonstrieren möchte, dass weite Reisen für ihn ein Kinderspiel sind. Und da ich nun auch hier sei, habe er es für eine gute Idee gehalten, das nächste Flugzeug zu nehmen. Ob ich denn nicht gemerkt hätte, dass er aus dem Flugzeug angerufen habe?
Jacob freute sich diebisch über seinen Schachzug.
»Heee!«, ertönte es plötzlich laut hinter mir. »Ist das eine Verschwörung? Hattet ihr das etwa abgesprochen?«
Mitch. Wie schmal und hoch aufgeschossen er neben Jacob plötzlich wirkte.
Und da erst ging mir auf, was es zu bedeuten hatte, dass Jacob hier war. Er war hier, um es mir noch schwerer zu machen. Das mit diesem sogenannten geschäftlichen Termin war Unsinn. Er war hier, um seinem Sohn Schützenhilfe zu geben. Sich vor ihn zu stellen – gegen mich. Er war mein Widersacher. Die Tränen in seinen Augen, als er seinen Sohn umarmte, entgingen mir nicht.
Die Sache war schon verloren, bevor ich richtig losgelegt hatte.
51
»Du hättest ruhig ein teureres Zimmer nehmen können, Schatz«, sagte Jacob, als er mein Hotel
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