Der Sohn (German Edition)
den »harten« Jungen in seiner Klasse zurechtzukommen – weil er selbst so sensibel sei.
»Oh, aber ich finde, dass Mitch auch ein ziemlich harter Junge ist«, hatte Mitchs Lehrerin verdutzt erwidert. »Nicht sensibler als andere, glaube ich eigentlich. Er ist bei Raufereien immer mit von der Partie, und wenn einer gehänselt wird, hält er sich auch nicht zurück.«
Ich hatte für diese desillusionierende Mitteilung sofort eine psychologische Erklärung parat gehabt – die natürlich nichts anderes als eine Rechtfertigung war: Mitch tat nur so, als ob. Aber ich war ein wenig enttäuscht gewesen. Es war zwar einerseits schön, dass Mitch sich offenbar unter seinen Altersgenossen zu behaupten verstand, und ich fand es auch interessant, dass die Lehrerin eine Art mädchenhafter Hochachtung für meinen Sohn an den Tag gelegt hatte, aber mir war sehr wohl klar, dass »hart« in diesem Kontext eigentlich eher mit Schwäche gleichzusetzen war: Mitch richtete sich nach der Meinung anderer. Das hatte ich gar nicht gern gehört.
Und jetzt? War Mitch wirklich so hart, dass er sich aufopfern wollte und das Glück und die Ruhe seiner Eltern dafür in Mitleidenschaft zog? War es Idealismus, der so hart machte – oder war das Ganze ein Spiel? Hatte er wirklich ein höheres Ziel, vor dem jeder andere (und ganz gewiss seine Mutter) den Hut ziehen musste? Oder ging es bloß um eine banale Wette, die er mit sich selbst abgeschlossen hatte?
Jedes Mal, wenn ich in diesen Wochen, bevor er am achten Februar ins Boot Camp musste, mit Mitch telefoniert hatte, war mir beim Klang seiner Stimme bewusst geworden, dass »hart« und »weich« für das, was ihn bewegte, völlig irrelevante Begriffe waren. Wenn es hart war, jeden Tag drei Stunden im Fitnesscenter zu trainieren, ja, dann war er hart, denn das tat er. Aber er machte auch keinen Hehl daraus, dass er Angst hatte und sich Sorgen machte, Regungen, die man gewöhnlich mit Schwäche verbindet. Zwar hatte er nur zweimal davon gesprochen, aber diese beiden Male hatten sich tief in meine Seele eingebrannt, sosehr sie zugleich eine Art Erleichterung bedeuteten: Mitch, der anrief und sich mir wie früher anvertraute. Mich »liebe Mama« nannte und mich beschwor, keine Angst um ihn zu haben. Vielmehr habe er Angst, dass Jacob, Tess oder mir etwas zustoßen könne. Ich müsse ihm versprechen, immer aufzupassen und achtzugeben, vorsichtig zu sein – »ganz vorsichtig, Mama« –, bis ich mich nicht mehr halten konnte vor Lachen, weil er so gut die Rollen vertauschen konnte. Und Mitch, der zu erkennen gab, dass es nicht leicht für ihn war. Bei diesem zweiten Mal, Ende Januar war das gewesen, nur zwei Wochen, bevor er ins Boot Camp musste, hatte er außerdem etwas gesagt, was mich danach nicht mehr losließ: dass ich eines Tages verstehen würde, warum er das tun müsse. Es klang ziemlich geschwollen, und auf meine Rückfrage hatte er letztlich nur wieder die alten Beweggründe angeführt, die er auch in Berkeley schon genannt hatte.
Aber dennoch hatte ich kurz das Empfinden gehabt, dass da noch etwas anderes war, etwas, was er verschwieg, etwas Größeres, Tieferes, Wahreres, das sich ihm und mir am Ende offenbaren würde. Vielleicht erhoffte er sich das selbst: die Offenbarung des »wahren« Grundes.
Nur als er meinen Vater herangezogen hatte, dass der seinen mutigen Entschluss garantiert begrüßt hätte, war ich in Harnisch geraten und hatte ihn sogar beschimpft.
»Es ist deine Entscheidung, Mitch, lass bitte deinen Großvater aus dem Spiel. Es ist natürlich verführerisch zu denken, dass er hinter dir gestanden hätte, wo ich mich so querstelle, das hilft dir, dich gut dabei zu fühlen. Aber wenn es das ist, was dich in deiner Überzeugung bestärkt, kann ich nur sagen, mach dir nichts vor, das ist Unsinn. Er hätte dich mit so vielen Gegenargumenten überschüttet, dass du es dir mit Sicherheit aus dem Kopf geschlagen hättest. Ich wünschte, er lebte noch, dann wärst du jetzt nicht gegangen, das weiß ich genau.«
Darauf war Mitch kurz stumm geblieben. Ich hatte ihn tief atmen hören. »Eben«, hatte er dann nur erwidert und mich gebeten, jetzt damit aufzuhören. Und ich hatte nicht weiter in ihn dringen wollen.
56
Die Nacht vor seinem Antritt im Boot Camp am achten Februar musste Mitch unter Aufsicht seines Rekrutierers in einem Motel in Berkeley verbringen. Dann würde er mit zwanzig anderen zusammen von San Francisco nach San Diego geflogen werden, wo sich das
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