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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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Ausbildungslager befand. Sie alle waren Gefangene eines Vertrags, an den sie sich mit ihrer Unterschrift gekettet hatten. Tiger, die auf ihre Abrichtung warteten.
    Wir hatten Mitch dazu überredet, seine letzten drei Tage vor dem Camp mit uns zusammen zu verbringen, und zwar im luxuriösen Fairmont Hotel in San Francisco. Ein großes Zugeständnis von Mitch, denn ihm waren die Wohlstandssymbole, mit denen Jacob so gerne prunkte, eher peinlich.
    Drei Tage hatten wir, bevor wir ihn seinem Rekrutierer übergeben mussten. Drei Tage gemeinsamer Urlaub, wie früher, als es unseren Kindern noch nicht peinlich war, wenn man sie in Gesellschaft ihrer Eltern sah.
    Der Himmel war verhangen, und es war windig, aber hin und wieder brach die Sonne durch, und dann schimmerte die Golden Gate Bridge wieder über der Bucht wie eine Fata Morgana – eine Vision aus einer anderen Ära, als noch alles gut gewesen war. Da konnte man fast so tun, als zerreiße es einem nicht gerade das Herz vor Schmerz über den hirnverbrannten Abschied, der immer näher rückte.
    Das Fairmont hatte ein Schwimmbad, in dem Tess und Mitch wie die Kinder tollten und sich gegenseitig untertauchten. Und wie damals, als sie noch klein gewesen waren, machte ich Fotos, möglichst viele Fotos, in dem krampfhaften Bemühen, dieses winzige Scheibchen Glück für ewig festzuhalten. Unentwegt starrte ich auf meine Kinder in diesem Schwimmbecken, während ich mich in vorgeblich entspannter, aber höchst angestrengter Filmpose auf einer Liege räkelte und las. Vor allem Mitch beäugte ich, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Wie nach seiner Geburt, als das Adrenalin noch in meinen Adern gepumpt und ich mich bei seinem Anblick ernstlich verliebt hatte. Seine Geburt war ein kleiner Krieg gewesen, ein Kampf ohnegleichen. Danach lag er auf dem Kissen wie ein Diamant. Vollkommen symmetrisch, gebündelte Energie, als funkle er. Autonom, hochmütig, unerschütterlich – ein ruhender Krieger, damals schon. Träger einer Geschichte Tausender Generationen, Konzentrat aller vorherigen Generationen. Diese Autonomie hatte mich damals überwältigt und sprachlos gemacht. Diese Liebe war neu, dieses Gefühl unbekannt – so selbstlos. Ich hatte gar nicht an einen Sohn gedacht, als ich schwanger wurde, ich hatte mir immer eine Tochter gewünscht. Auch dadurch hatte Mitch etwas von einem Wunder gehabt, Überraschung pur.
    Als Tess gekommen war, doch noch ein Mädchen, war das zwar so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit gewesen, aber nach sechs Jahren mit einem Jungen hatte ich keine Ahnung mehr, wie man mit Mädchen umging. Zu meinem Erstaunen war Tess ein völlig anderes Kind, als ich es gewesen war. Sie war burschikos, wild und lebhaft, während ich vorsichtig, sorgsam und gewissenhaft gewesen war. Nun, da ich durch Mitch zum ersten Mal etwas von Jungen zu verstehen gelernt hatte, wusste ich mit dem Wesen, das mir von Natur her eigentlich am nächsten hätte sein müssen, nicht so recht umzugehen. Tess war warmherzig und lieb, schien sich ihren Eltern gegenüber aber nicht verpflichtet zu fühlen – ganz anders als ich meinen Eltern gegenüber –, denn unsere Ge- und Verbote beeindruckten sie wenig. In puncto Autonomie stand sie Mitch in nichts nach. Sie spielte Gitarre und sang dazu, bastelte verrückte Collagen, und eines schönen Tages sprühte sie zu unserem Schrecken riesige Graffiti auf ihre Wände und Türen – die übrigens gar nicht so schlecht waren. Ansonsten hockte sie meistens an ihrem Computer und kommunizierte mit ihren zahllosen Freunden. Tess, die lange erwartete Tochter, war nicht, wie ich es mir immer erhofft hatte, der Mensch, dem ich endlich alles erzählen konnte, alle unaussprechlichen Geheimnisse meines Lebens. Tess hegte ganz andere Geheimnisse als ich.
    Ich schaute zu, wie sie spielten, Mitch, so groß und herausfordernd, Tess, schon beinahe Frau.
    Sie gingen noch genauso miteinander um wie als Kinder, ein Umgang, den wir manchmal etwas albern fanden. Sie hatten ihre eigene Sprache, die andere ohne böse Absicht ausschloss. Neunzehn und dreizehn. Mitch hob Tess in die Höhe, und Tess schrie theatralisch um Hilfe.
    Mit tränenden Augen starrte ich auf Mitchs Bauchmuskelpanzer, der unwillkürlich Distanz schuf.
    Eine aufrechte, gehorsame Kreatur würden sie aus meinem Sohn machen, einen unbeirrbaren Organismus, der kämpfen konnte und Befehlen blind folgte. Sein Drill Instructor, so ein schreiender, faschistoider Androide, würde dann das Hirn sein, das

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