Der Sohn (German Edition)
sah erbärmlich aus. Ich musste mir eingestehen, dass ich es ihm durch meine Zuwendung bewusst noch schwerer hatte machen wollen. Er war sich doch so sicher! Wie konnte ich nur so borniert sein? Die letzten Minuten auf dem Weg ins Motel weinte ich still vor mich hin.
Außer den Sachen, die er am Leib trug, und einer dünnen Mappe mit Papieren hatte Mitch nichts bei sich. Er würde von jetzt an eine Uniform tragen und Marschgepäck – er würde lernen, damit zu rennen und meilenweit damit zu marschieren. Er würde schießen und kämpfen lernen, er würde Liegestütze machen müssen, sich binnen einer Minute anziehen müssen, er würde zu wenig Schlaf bekommen und nicht genug zu essen, er würde seinen Entschluss zutiefst bereuen, er würde weinen und nicht mehr verstehen, was er da eigentlich machte, er würde uns nur ein einziges Mal anrufen dürfen, und das unter Aufsicht. Keine Klagen, keine Besonderheiten. Er würde natürlich Briefe schreiben dürfen, aber wann, denn viel Zeit würde er nicht haben. Dreizehn Wochen lang würde er Angst haben, unglücklich sein und halb krank von den Schmerzen in seinem Körper. So jedenfalls stellte ich es mir vor.
»Wie geht es dir?«, fragte ich.
»Gut, Mama, echt«, antwortete er.
Tess hielt Mitchs Hand, wie ich im Rückspiegel sah, und streichelte seine Fingerknöchel. Sie hatte ihn hören lassen, was sie auf ihrem iPod gespeichert hatte, und versuchte, ihn zum Lachen zu bringen, kitzelte ihn, überdreht, kichernd vor Anspannung.
Mitch ließ sich darauf ein, gutmütiger, als ich ihn je erlebt hatte. Aber auf den letzten Metern verstummte auch Tess, ihre Augen wurden groß und traurig, und sie drückte seine Hand noch fester.
Ich hatte ihm alles so oft gesagt. Ohne Erfolg. Er wollte das hier. Wir waren jetzt alle still, in diesem blöden, beengten Auto. Wir waren einmal eine Familie mit zwei Kindern gewesen, die hinten saßen, jetzt waren wir vier ausgewachsene Menschen, eine Bärenfamilie, die in einen Sedan gerade eben noch hineinpasste. Die familiäre Zusammengehörigkeit, die gemeinsame Sprache, die gemeinsamen Themen, die gemeinsame Geschichte machten uns jetzt aber nicht stark, sondern verletzlich, so mein Gefühl. Sie bot nur die Illusion von Geborgenheit.
Wir sind die letzte Familie auf Erden, dachte ich. Die letzte Familie am letzten Tag.
Und als wir ihn am Motel absetzten, konnte keiner von uns mehr herausbringen als die alten Beschwörungsformeln.
»Auf Wiedersehen, Schatz.«
»Ruf an, sobald du kannst, bitte. Tag oder Nacht.«
Ich umarmte ihn, fest, als könnte ich ihm Kraft geben, während ich sie doch heimlich von ihm stahl, und küsste ihn, so oft ich konnte.
Er hielt mich, wie er mich immer gehalten hatte, wie nur Mitch mich hielt, die Arme ganz um mich herum. Nur daraus ließ sich ablesen, wie ihm zumute sein musste. Sein Kopf ruhte schwer an meinem Hals, bis mir fast die Luft wegblieb und ich mich von ihm lösen musste. Er ließ mich frei. Umarmte seinen Vater, umarmte seine Schwester. Und dann hielt er mich noch einmal ganz fest.
Er schaute sich nicht um, als er über den Platz hinweg auf das Motel zuging. Wir durften nicht weiter mit. Diesen Schritt wollte er allein machen.
Wir schauten ihm von der anderen Seite des Platzes aus nach. Als er an der Tür dieses blöden Motels angelangt war, drehte er sich dann doch noch einmal um, ganz kurz. Er winkte, fast lässig.
Dann war er weg.
58
Wenn ich in jenen Wochen an Mitch dachte, sah ich immer diesen von uns weggehenden Mitch vor mir. Ein Bild wie aus einem allzu symbolträchtigen Film über Abschied, das mich manchmal fast verrückt machte und meine Träume überschattete – falls ich schlief. Wenn Mitch die ersten drei Wochen Boot Camp überstand, würde er es mit großer Wahrscheinlichkeit schaffen. Und er hatte schon verkündet, dass es für ihn nicht in Frage komme, dann ein paar Jahre lang auf einer amerikanischen Basis stationiert zu sein, um unter den Fittichen der Army irgendein Studium durchzuziehen. Studieren könne er immer noch, wenn er erst einmal einige Missionen hinter sich gebracht habe. Nichts konnte ihn davon abbringen, sosehr wir es auch versucht hatten.
Schießwütig hatte Jacob ihn genannt. Auch er war endlich ein wenig beunruhigt.
Wir hatten beschlossen, nach dem achten Februar noch für drei Wochen ein Hotel in San Diego zu beziehen. Ich für meinen Teil, um Mitch, sollte ihm nach Desertieren sein, sofort zu entführen – notfalls mit verbundenen Augen. Eine
Weitere Kostenlose Bücher