Der Sohn (German Edition)
erzählen. Vom Lager. Ich war zu Tode erschrocken.
»Du weißt, im Lager…«, so fuhr er fort.
Panisch fragte ich mich, ob ich das hören wollte, jetzt. Wurde mir jetzt eine Lektion erteilt, eine Lagerlektion ? Das passte mir gerade überhaupt nicht, denn ich wollte reiten gehen! Außerdem machte es mir Angst, ich wollte all das gar nicht wissen. Aber leider war ich zufällig die Einzige, die noch im Haus war. Tara übernachtete bei einer Freundin, und meine Mutter war mit dem Hund Gassi gegangen. Andererseits war ich auch neugierig, was mein Vater denn da loswerden wollte, auf eine krankhafte, hungrige Weise neugierig.
»Ich hatte wieder solche Träume«, sagte er leise. »Wusstest du, dass die Nazis die Muselmänner benutzten, um die Menschen in die Gaskammern zu bringen und die Leichen zu beseitigen? Sie würden ja nicht erzählen, was sie miterlebten – Muselmänner hatten sich aufgegeben, waren verdammt.«
Ich wagte nicht, ihn anzusehen. Mein ganzes Fünfzehnjährigendasein kreiste um die Unterscheidung zwischen dem, was echt, und dem, was unecht war, und ich wusste nicht, wie ich auf diese Geschichte reagieren sollte.
Bleischwere Minuten verstrichen. Er war noch nicht fertig.
»Was ich dir jetzt erzähle, ist wirklich passiert. Ich war im Lager, und ich litt solchen Hunger, dass ich abglitt. Ich empfand nichts mehr, wusste nicht mehr, wer ich bin, war schon fast ein Muselmann. Und da habe ich Kameraden, die im Sterben lagen, ihr Brot gestohlen. Ohne Reue, ohne Mitgefühl. Das Brot konnte sie ohnehin nicht mehr retten. Ich habe jahrelang darunter gelitten, dass ich das getan habe. Aber die Ironie ist, dass ich gerade dadurch, dass ich dieses Brot aß, meine Scham zurückgewann, mein Gewissen. Es ist nicht so, wie gern behauptet wird, Saar, Leid hebt nicht die Moral des Menschen. Im Gegenteil. Die Moral braucht Zeit, Zuwendung, Nahrung und Ruhe, und sei es nur ein kleines bisschen davon. Nein, Leid korrumpiert.«
Genauso plötzlich, wie er damit angefangen hatte, hörte mein Vater auf zu reden.
»Danke, Papa«, sagte ich.
Fünf Minuten lang wartete ich totenstill ab, aber es kam nichts mehr. Seine Augen, die für gewöhnlich spöttisch und aufgeweckt blickten, hatten einen so düsteren und unnahbaren Ausdruck, dass es mir vorkam, als starre er durch mich hindurch.
Das war echt, daran bestand für mich kein Zweifel.
Danach bin ich dann doch noch reiten gegangen. Mein Vater legte Brahms auf, wie ich draußen hörte. Als ich durchs Wohnzimmerfenster hineinschaute, saß er mit beiden Zeigefingern dirigierend auf dem Sofa. Mein Vater war a mentsch . Ein nervöses Exemplar vielleicht, sterbensbang, seine Kinder durch Unholde, Unfälle, fremde Einflüsse zu verlieren, überaus ordnungsliebend und reinlich (sieht man mal von seinem Schreibtisch ab), schon fast zwanghaft diszipliniert, kein großer Freund von Feiern und kein Lebensgenießer, aber dennoch oder vielleicht gerade deswegen a mentsch.
Aus irgendeinem Grund muss ich jetzt ständig an jenen Vormittag denken. Mein Vater wollte mir etwas erzählen, wenn ich nur wüsste, was.
88
Wenn man die Zeitungen liest, zeigt sich plötzlich, dass sich die scheußlichste Nacht unseres Lebens in Sätze fassen lässt, wie man sie schon Hunderte Male gelesen hat. Alles gleichermaßen nichtssagend.
PRODUZENT IN SEINEM HAUS ÜBERFALLEN
Film- und Fernsehproduzent Jacob Edelman (Tolle Dienstagabende; Dumm gelaufen, Japie!; Das große Gut; Schwergewichte) wurde gestern Nacht bei einem Raubüberfall auf seine Villa in Overveen niedergeschossen. Sein Zustand ist kritisch.
Gestern Nacht wurden der Produzent Jacob Edelman und seine Frau, die Publizistin Sara Silverstein, bei einem Raubüberfall von zwei maskierten und bewaffneten Räubern aus dem Schlaf geschreckt. Auf Edelman wurde zweimal geschossen. Die beiden Täter entkamen mit Wertgegenständen aus dem Haus.
Der Produzent Jacob Edelman wurde schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Sein Zustand ist kritisch. Zwei maskierte Männer waren in die Villa des bekannten Produzenten eingedrungen und hatten das Ehepaar und dessen dreizehnjährige Tochter mit Schusswaffen bedroht. Die beiden Täter sind flüchtig. Edelman (53), seit fünfzehn Jahren Film- und Fernsehregisseur sowie Produzent und Eigentümer von Zapp Entertainment, besitzt auch Immobilien in der Hauptstadt.
»Ja, ja«, sagt Tess mit Blick auf die Zeitungsausschnitte, die sich Iezebel offenbar beiseitegelegt hat, finster.
Ein zehn Jahre altes Foto von
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