Der Sohn (German Edition)
Geburtstag. Doch aller Trubel lenkt nicht vom Eigentlichen ab, von diesem anderen, weinenden Jacob, von der bleichen Tess. Der Schmerz bohrt ein Loch in mich hinein, ich bin so ausgehöhlt, dass es in mir hallt.
86
Ja, Jacob scheint ein anderer zu sein. Nach den ersten bangen Tagen, in denen er, an Schläuchen und Kanülen hängend, nur dalag und schlief, ist er jetzt wach und sitzt halb aufrecht im Bett. Er fasst meine Hände, wenn ich bei ihm bin.
»Ich bin auf dem Mond gewesen«, sagt er. »Ich habe die Erde gesehen, wie sie ist. Ich weiß nicht, ob ich damit leben kann, Saar. Ich liebe dich so sehr.«
Sein Gesicht ist verzerrt vor Verzweiflung und leer vor Entsetzen. Ohne seine Selbstsicherheit, seine Kraft und seinen Optimismus ist er ein hilfloser, dicker, alter Junge. Er klammert sich an mich und weint – wenn Tess nicht dabei ist jedenfalls. Ist Tess da, ist er vorsichtig und druckst herum – anfangs wollte er auch sie bei den Händen fassen, aber das war ihr offensichtlich so unangenehm, dass er sie loslassen musste. Sie lässt niemanden an sich heran. Er kann sie jetzt kaum noch ansehen, weil er eine Heidenangst hat, dass er in ihrem Beisein in Tränen ausbricht. Er wagt nicht, sie etwas zu fragen. Ich sage ihm, dass das albern ist. Dass er Fragen stellen muss. Ich behaupte sogar, es wäre nicht schlimm, wenn er weint.
»Wie geht es dir, Vögelchen?« Er weint schon.
»Ganz gut.«
Tess scheint leise zu implodieren, zehn Wachstumsschritte zurück zu machen. Stumm vor Elend. Tess will nicht über diese Nacht sprechen. Sie hat noch eine weitere Aussage gemacht, aber die Polizei denkt nach wie vor, dass sie etwas verschweigt. Im Haus meiner Mutter schläft sie jede Nacht bei mir im Bett. Sie schreit im Schlaf, während sie sich tagsüber möglichst in Schweigen hüllt. Hin und wieder lacht sie, ein eigenartiges, rauhes Lachen. Mit Verve erzählt sie Freunden eine Variante von DER GESCHICHTE, das bekomme ich mit, als ich an der Tür des Zimmers lausche, in dem sie sich tagsüber verschanzt. Als wären nächtliche Einbrüche Abenteuer.
Ich schlafe nicht. Dazu bin ich viel zu wach. Ich koche, ich schäume, ich bin wie ein Kessel mit siedendem Öl. Tess vermisst ihren Vater, vermisst Mitch, wie sie mir erzählt. Aber das ist auch schon alles, was sie mit mir bespricht.
Sie sagt: »Ich will, dass Papa nach Hause kommt. Ich will, dass Mitch wieder hier ist.«
Mit Mitch würde sie reden, denke ich. Und wenn er davon hört, kommt er bestimmt nach Hause. Ob das geht, weiß ich nicht. Ich möchte nicht, dass er das Boot Camp sausen lässt. Das kann ich ihm nicht antun. Aber danach…
Hoffnung hält mich auf den Beinen. Noch etwas mehr als zwei Wochen.
Ich vermisse meinen Vater, ich vermisse Jacob, und ich vermisse Mitch. Aber dem Gefühl nach ist Tess am weitesten von mir entfernt.
Alles ist durcheinander. Wie sage ich Mitch, dass sein Vater nicht zu seiner Graduation, dem feierlichen Abschluss seiner Grundausbildung, kommen kann?
87
Als ich fünfzehn war, erzählte mir mein Vater, wie er fast zum Muselmann geworden wäre. Oder besser gesagt: Wie er es noch gerade eben nicht geworden war.
»Weißt du, was ein Muselmann ist, Saar? Das war ein Begriff, den wir im Lager benutzten.«
Warum er mir das auf einmal erläutern musste, weiß ich bis heute nicht. Ich wollte zu der Zeit vor allem in Ruhe gelassen werden. Ich war damals ziemlich durcheinander und hatte sogar hin und wieder Streit mit meinen Eltern, was bis dahin (und danach) ein Ding der Unmöglichkeit war. Ich hatte in der Schule kaum Freunde und begann mir schmerzlich darüber bewusst zu werden, dass es womöglich weit weniger schön war, erwachsen zu werden, als ich immer gedacht hatte.
»Muselmann«, erzählte mein Vater, »nannten wir diejenigen, die sich aufgegeben hatten. Ein Muselmann war ein Verlorener, ein menschliches Wrack ohne moralische Werte oder Empfindungen.« Die Vertraulichkeit seines Tons war so ungewohnt, dass Flucht nicht in Frage kam.
»Okay, und ?«, fragte ich.
Ich wollte weg, traute mich aber nicht, unhöflich zu sein, wo ich mit ihm allein war.
Es war an einem Samstag, und mein Vater hatte nachts sehr schlecht geschlafen, was man an seinen Augen sehen konnte, sie waren ein bisschen verquollen, mit dicken Tränensäcken darunter. Bis elf Uhr war er unansprechbar gewesen. Beim Frühstück hatte er fast kein Wort gesagt. Danach hatte er sich aufs Sofa gesetzt, ohne Buch oder Zeitung, und hatte angefangen zu
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