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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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Jacob ist dazu abgedruckt und ein Gott sei Dank ziemlich verschwommenes Bild von unserer Straße mit der Polizeiabsperrung vor unserem Grundstück.
    »Was ja, ja ?«, frage ich.
    Ich bin nach den vielen Telefonaten, in denen ich »unsere Geschichte« wieder und wieder erzählen musste, ganz außer Atem. Es nimmt kein Ende. Ich starre auf die Zeitungsartikel. Sie treffen nicht mehr zu. Jacob ist inzwischen nicht mehr in einem kritischen Zustand. Aber nach einer Woche voller panischer Nächte mit nur kurzen Tiefschlafphasen wie Abgründen, in die ich kopfüber hinabstürze (Vicodin!), fröstle ich bei all diesen armseligen, beiläufigen Banalisierungen unserer Tragödie und erkenne, wie allein wir dastehen.
    Die Schändung der persönlichen Unversehrbarkeit lässt sich nicht mitteilen, das wird mir jetzt klar – darum geht es. Als sei die Unversehrbarkeit ein Grenzzaun, der der Sprache den Zugang verwehrt. Innerhalb dieser Grenze ist alles so unbestimmt, so weich und persönlich, dass Worte es nicht fassen könnten. Durch die Verletzung dieser Grenze wird man zur offenen Wunde und verliert die gesamte Festigkeit und Erkennbarkeit seiner früheren Form. Ich wünschte, ich hätte die Zeit, im Wörterbuch alle Ausdrücke nachzuschlagen, mit denen man anderen erklären könnte, wie sich die Angst und der Horror anfühlen, die wir erfahren. Aber selbst dann: Worte sind traurige, behelfsmäßige Vehikel, wenn es darauf ankommt. Nichts verschafft Erleichterung. Außer vielleicht Schlaf.
    Die Martern scheinen auf Wiederholung programmiert zu sein: Alle halbe Stunde mache ich alles noch einmal durch, höre Tess’ leise Stimme und erlebe den Schrecken der Anwesenheit fremder Menschen an unserem Bett. Ich versuche es als Wunder zu begreifen, dass wir noch leben – um ein Haar wäre ich auch von einer Kugel getroffen worden. In Jacobs Körper hat das Blei Verwüstungen angerichtet. So viel zur Unversehrbarkeit. Mag ich Jacob auch oft böse sein, er gehört zu mir, mit seinem Körper, der immer ein Felsen für mich war, der mir lieb und vertraut ist und der unversehrt zu sein hat. Diese traurige, jämmerliche Blutlache – das ist die Verneinung des Jacob, den ich kenne: Das ist das Gegenteil von ihm.
    Ob Jacob je darüber hinwegkommen wird, dass er sich so geschlagen geben musste?
    Ich sehe Tess, meine Tess, von deren Nacht ich so wenig weiß. Unsere Angst und unser Schrecken können nicht schlimmer sein als die ihren. Mein immer umsorgtes Mädchen, bei aller Wildheit, allem Zynismus, aller vermeintlichen Weltgewandtheit so arglos. Nie etwas Böses mitgemacht, keine harten Worte, Schläge, Gewalt, Grausamkeit, alles nur vom Hörensagen, aus Erzählungen, Filmen, rundherum nichts als Geborgenheit, Zärtlichkeit, höchstens mal eine Ermahnung.
    »Nichts«, sagt Tess. »Nichts ja, ja. «
    89
     
    Immer wieder bin ich erschüttert, wenn mir Momente in den Sinn kommen, die mir entfallen waren. Jedes Mal bin ich perplex über meinen offenkundigen Mangel an Übersicht und Einblick. Es ist, als lägen bestimmte Elemente in meinem Geist trocken, als befänden sich dort taube, gefühllose Stellen, tote Winkel, wohin die Erfahrungen noch nicht vordringen konnten. Und es scheint auch, als bräuchten die Erfahrungen Zeit, um sich im Wesen zu verbreiten, es wie ein zähflüssiger, ätzender Stoff mit ihrem Ernst und ihrer Tragweite zu tränken.
    Erst, wenn das geschehen ist, wenn alle Aspekte, alles Unrecht, alle Schmerzen, die dir zugefügt wurden, erkannt und in die dichtesten, unzugänglichsten Fasern der Seele vorgedrungen sind, weißt du, was dir zugestoßen ist, wie groß der Schaden ist, wie das Leid aussieht.
    Und dann?
    Kannst du dann weiterleben?
    Das Einzige, was ich sehe, ist, dass dann das Warten beginnen kann, das Warten auf eine Antwort. Ich denke bei dieser Antwort an ein Ungeheuer, das endlich erwachen und uns befreien wird. Das das Böse in den vergifteten Fasern meiner Seele bessern wird.
    Und was sonst ist so reinigend, so heilsam, was sonst kann den Schmutz und das Böse wegwaschen und unsere über die verratene Sicherheit in Aufruhr geratenen Herzen beruhigen, was sonst, wenn nicht der feste Vorsatz, Vergeltung zu üben?
    90
     
    »Unglaublich, das klingt ja, als ob Jacob plötzlich unter Verdacht steht!«, sagt Tara nach Lektüre der Zeitungsartikel.
    Wir sitzen bei Iezebel vor dem Fernseher. Unter anderen Umständen hätte das ein Besuch wie in guten alten Zeiten sein können.
    Tara hat einen Apfelkuchen mitgebracht,

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