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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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ein Stofftier für Tess und Boxhandschuhe für Tess und mich. Je einen. Da wirkt es noch wie ein Scherz.
    Von der Pistole erfährt Tara nichts. Das ist eine stumme Übereinkunft zwischen Iezebel und mir. Meine nutzlose Waffe, die ich momentan unter dem Gästebett versteckt habe.
    Tess ist kurz nach unten gekommen, um ihren Timer zu holen. Sie hat den ganzen Abend oben verbracht, mal hier, mal da, im Badezimmer, auf der Toilette, im Gästezimmer, im alten Zimmer meines Vaters. Ich habe immer mal wieder nach ihr gerufen, aber sie hat nicht reagiert, oder sie hat »ich kohomm« gerufen, und dann herrschte wieder Stille.
    Jetzt schnappt sie sich nur ihren Timer, ohne uns anzusehen, und huscht wieder aus dem Zimmer. Sie trägt ein Oberhemd von Jacob über ihrer Jogginghose.
    »Wie geht es Tess?«, fragt Tara.
    »Total verschreckt«, sage ich. »Was dachtest du denn? Aber vielleicht solltest du es sie selbst fragen.«
    »Ich darf dich das doch wohl fragen, oder?«, sagt Tara.
    »Klar. Aber ich meine das ganz im Ernst. Vielleicht sagt sie dir mehr.«
    »Meinst du?« Ein Hauch von Erwartung auf Taras Gesicht.
    Sie geht sofort nach oben.
    Da sitze ich nun wieder bei meiner Mutter auf dem Sofa, wie früher. In meinem verwirrten Zustand kommt es mir manchmal so vor, als wäre die Zeit zurückgedreht worden. Ich fühle mich hier sicherer als bei mir zu Hause, das schon, zu Hause möchte ich jetzt um keinen Preis sein, aber das ist eine so plötzliche Niederlage, dass ich nicht erkennen kann, wie ich mich je wieder daraus aufrichten soll. Fürs Erste ist alles kaputt und rückgängig gemacht worden, und ich bin wieder, wo ich früher war. Ich wohne wieder in meinem Elternhaus und bin wieder Kind. Auch meine Tochter, plötzlich so weit weg von mir, kommt mir manchmal neu vor. Das Heimweh nach früher, nach meiner Kindheit, ist definitiv vorbei. Wie machtlos man doch als Kind ist. Wie endlos lange es doch dauert, bis man endlich groß ist und vor allem: frei. Ich hatte so vieles vergessen.
    Wenn ich Tess in ihrem Pyjama vor mir sehe, mit ihren verweinten Augen und der verschmierten Wimperntusche, macht mich das krank. Ihretwegen könnte ich zur Mörderin werden. Wer sind die, die Vergewaltiger des Glücks meiner Tochter? Meine alte Tess, die verspielte, sorglose Tess scheint es nicht mehr zu geben. Dieses harte, böse Wesen, das derzeit in Tess’ Gestalt durch das Haus meiner Mutter geht, ist eine ganz andere. Die auf die Toilette verschwindet und blass und fleckig wieder hervorkommt. Die fast nichts isst. Und die sich nicht beruhigen oder trösten lässt, wenn sie nachts schreit, sondern um sich tritt und wild mit den Armen schlägt – als ob sie mich bestrafen will, weil ich in den schwersten Stunden ihres Lebens nicht bei ihr war, denke ich, weiß ich.
    Wenn sie wach ist, wirklich wach ist, muss ich sie in die Arme nehmen, ganz fest, und ihr über den Kopf streichen, über ihr seidenweiches Haar, ihre schmalen, weichen Kinderhände in meinen Händen halten, und erst dann gleitet sie langsam wieder in den Schlaf zurück – ohne dass sie etwas gesagt hat, was mich weiterbringt, womit ich an meinem Hass und allen Antworten, die in mir gären, weiterbauen kann.
    Hundertmal sage ich zu Tess: »Rede, Liebes, sag etwas, erzähl mir, was passiert ist. Wenn du dich besser fühlen möchtest, musst du reden. Betrachte ES « – wir ertragen beide keine präzisere Benennung für das Verbrechen – »als verdorbenes Essen, giftig. Etwas, was rausmuss.«
    Wir müssten ihr Zeit lassen, sagen die Leute von der Opferhilfe. Sie werde schon irgendwann reden. Sie habe ein Trauma, sie sei überspannt. Geduld und Liebe und Ruhe brauche sie, in großen Mengen.
    Wie soll ich Tess helfen? Ich identifiziere mich viel zu sehr mit ihr.
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    Tara ist schon wieder zurück, mit besorgtem Gesicht.
    »Nein, sie sagt nichts«, sagt Tara. »Nur, dass sie sie beinahe umgebracht hätte. Stimmt das? Hat Tess mit den Männern gekämpft?«
    »Hm…« Ich zweifle, geschockt über diese neue Information. »Hat sie das gesagt? Wie hat sie das gesagt?«
    »Ich fragte sie, wie es ihr gehe. Schlecht, sagte sie. Kannst du mir erzählen, was passiert ist, fragte ich daraufhin. Ach, hat Mama dich geschickt, erwiderte sie. Sie waren zu stark, sagte sie. Hätte ich sie doch bloß umgebracht.«
    »Das ist schon eine ganze Menge«, sage ich.
    »Glaubst du, sie hat mit ihnen gekämpft, Saar? Mein Gott. Das Kind!«
    »Wir haben uns alle gewehrt!«, rufe ich wütend. »Was

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