Der Sohn (German Edition)
zu ihrem Vater zurück.
Der Boden ist mit zerbrochenem Geschirr und zerrissener Kleidung übersät. Mein schöner Berberteppich ist blutverschmiert. Mein Schmuck ist weg, mein Laptop auch. Zum Glück habe ich vieles von meiner Arbeit auf einer externen Festplatte gespeichert. Und die ist noch da. Ich kann so schlecht nachdenken. Der Inhalt meines Kopfes scheint sich immer weiter auszudehnen, der Druck steigt, bis mir die Augen hervorquellen. Trotz allem finde ich es auch ganz schön, dass so viele Leute im Haus sind. Ich koche Kaffee, und dabei werde ich schon fast vergnügt.
»Die hier haben wohl keinen Gefallen gefunden«, flachse ich gleich viermal hintereinander gegenüber Polizisten und Ermittlern, als ein Paar goldener Ohrringe auf der Treppe gefunden worden sind. Mit den Ohrringen wedelnd, dem Einzigen, was von all meinen Schätzen geblieben ist, muss ich mich plötzlich hinsetzen, weil mir schwarz vor Augen wird. Ich rufe Tess.
Tess sitzt stumm auf dem Sofa und reagiert nicht.
»Übermüdung und Schock«, sagt Koornstra.
Er nimmt mich beiseite, redet leise und eindringlich auf mich ein: »Behalten Sie Ihre Tochter im Auge, Frau Silverstein. Wir sind nicht so ganz dahintergekommen, was ihr angetan wurde. Wenn mehr war als das, was sie uns erzählt hat, sollte sie es uns sagen. Sie bekommt professionelle Hilfe.«
Es ist wie ein Schlag mit einem schweren Gegenstand. Siehst du, dauernd vergisst du etwas. Meine Tess, meine Tess.
Als wir unsere Aussagen mehrere Male wiederholt haben, auch auf dem Polizeirevier, will ich plötzlich nur noch, dass sie alle weggehen. Aber Koornstra redet wieder von anderswo übernachten. Da erst kapiere ich: Wir können heute Nacht nicht in diesem Haus schlafen. Ich muss tief nach Luft schnappen vor Schreck und Angst. Dann rufe ich Iezebel an.
84
In meinem Arbeitszimmer zupfe ich das Klebeband ab und stecke die Pistole in meine Tasche. All diese Spurensucher im Haus. Gott behüte, dass sie meine Waffe finden!
Eine Woche lang wird womöglich die Polizei im Haus sein. So lange schlafen wir bei meiner Mutter. Ich telefoniere mit Versicherungen, Mobilfunkanbietern. Die Medien sind neugierig. Wir reden mit Leuten von der Opferhilfe, Tess und ich und auch Jacob, dem es ganz allmählich bessergeht. Sie kommen ins Krankenhaus. Ein unglaublicher Beruf, Empathie als Profession. Das muss wohl Berufung sein. Wendy und Maarten heißen sie. Sie stellen Fragen, und wir geben all dem Unglaublichen, das wir erlebt haben, eine Form. Wir finden Worte dafür und ganze Sätze und schweigen dann enttäuscht. Nichts scheint mehr zu stimmen. Was geschehen ist, war viel schlimmer als die Erzählung. Oder kann das nicht sein? Trotzdem lassen all diese lahmen, verschwommenen Worte unseren Schrecken und unsere Qualen lebendig werden. Bei Tess, mit der sie separat sprechen, scheint es nicht so richtig voranzugehen. Ich träume von einem Baby, das immer mehr schrumpft, bis ich es in eine Streichholzschachtel schiebe. So hoffe ich es zu beschützen. Bis auch die Streichholzschachtel zu groß wird…
85
Journalisten rufen an, Blutsauger stehen an Jacobs Bett. Sein Assistent macht Überstunden. Briefe und E-Mails und Blumen treffen ein. Zunächst spärlich, sehr vorsichtig – als trauten die Leute dem Ganzen nicht, als hätte das Verbrechen, das wir durchgestanden haben, uns ihnen entfremdet, meilenweit von ihnen entfernt. Die in unserem Fall angewandte Gewalt ist von einer Größenordnung, bei der die Phantasie mit den anderen durchgeht. Es wurde nicht einfach bei uns eingebrochen, nein, wir sind mit Waffen bedroht und aus dem Bett geholt worden. Passiert so was nicht nur in der Unterwelt?
Auch von der Polizei werden wir wieder und wieder befragt. Man stellt ohne Umschweife die Möglichkeit einer Abrechnung in den Raum, Auge um Auge, Zahn um Zahn, wo Rauch ist, ist Feuer, und wo Pistolen zum Einsatz kommen, sind vielleicht Drogen im Spiel. So viel Geld, wie Jacob verdient hat, gibt es da nicht Connections? Woher kannte Jacob eigentlich damals den jungen Mörder, um den es in seinem Film ging?
Doch mit der Zeit wird allen deutlich, dass auch wir von dem Ganzen überrascht wurden. Tage später kommt ein Putztrupp, der das Haus saubermacht. Bis dahin laufen die Leute von der Spurensuche darin herum. Ich möchte es Monica nicht zumuten, das Blut aufzuwischen.
Ich bin seltsam überwältigt von allen Aufmerksamkeiten und der Zuwendung, die mir gefehlt hatten. Es ist, als hätten wir permanent
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