Der Sohn (German Edition)
mein großer Sohn. Bei ihm ist jetzt noch Nacht. Er weiß nicht, mit was wir uns herumzuschlagen haben. Was für ein Wunder es ist, dass wir noch leben.
Noch ein, zwei Nächte bei meiner Mutter, habe ich mit Tess abgemacht, dann müssen wir versuchen, wieder bei uns zu Hause zurechtzukommen. Das Haus meiner Mutter ist nur ein vorübergehender Hafen. Und der Aufenthalt dort macht mich hilfloser, als ich es sein sollte und sein will.
Als ich hereinkomme, ist meine Mutter in heller Aufregung. Der Enkel der Nachbarin von hinten sei da gewesen, von dieser Frau mit dem Obstkorb, ich erinnerte mich doch?
Ja, ich erinnere mich.
»Er hat wieder etwas vorbeigebracht. Eine Tomatenpflanze diesmal. Seine Oma habe sie für mich gekauft, aber sie sei krank und könne sie nicht selbst bringen. Wir haben ein bisschen geredet. Er sagte, das Haus von seiner Großmutter sehe genauso aus wie unseres, bis auf den Wintergarten. Na, da habe ich dann ein bisschen vom Ausbau erzählt. Aber darüber wusste er schon Bescheid, seine Oma ist ja auch die reinste Klatschtante. In dem Zusammenhang sagte er aber plötzlich: Witzig, diesen Mann von Ihrem Wintergarten, den kenne ich vom Fitnesscenter, ich mache Kampfsportarten, wissen Sie, Judo, Karate und so. Ich habe noch einmal nachgefragt: Unseren Maurer meinen Sie? Martin Kraan? Aber er meinte nicht Martin Kraan, sondern er beschrieb mir Raaijmakers!«
Ich bleibe ganz ruhig. »Okay, das kann natürlich sein. Welches Fitnesscenter ist denn das?«
»Das ist doch ganz egal! Er sagte, dass er Raaijmakers auch oft hier bei uns gesehen hat, im Sommer! Samstags, wenn er nach dem Training kurz seine Oma besucht habe, habe er sie manchmal bei uns am Gartenzaun stehen sehen. Wen sie?, habe ich natürlich gefragt. Und da sagt er: ›Na, Raaijmakers und Ihren Mann.‹«
Die Augen meiner Mutter sprühen vor Empörung.
»Also wenn ich bei der Gymnastik war, hat dieser Halunke hier am Zaun gestanden und mit Herman geredet! Und Herman hat nichts davon gesagt!«, ruft sie.
Wir sehen einander an.
»Wie heißt dieses Fitnesscenter, Mam?«
»Halt dich da raus, Saar, bitte. Wir müssen zur Polizei gehen, die müssen das klären, nicht wir!«
Sie wusste den Namen auch nicht mehr genau. Irgendetwas mit Nord.
Ich erzähle ihr von meinem Abstecher nach Amersfoort. Davon, dass Raaijmakers Hermans Vorlesungen besucht hat.
»Über den Krieg?«, fragt meine Mutter.
»Ja…«
Und danach erzähle ich die ganze Geschichte von Raaijmakers’ Vater, dem Nazi-Kollaborateur.
»Ach du lieber Gott«, seufzt sie. »Dann stimmte es also wirklich… Wenn Raaijmakers angefahren kam, sagte Papa immer: Schau mal, da kommt die Wiedergutmachung! Das war ein Ulk, an den ich mich schon gewöhnt hatte.«
Ich trage noch einmal meine Absolutionstheorie vor.
Meine Mutter vermutet aber eher, dass es Raaijmakers um Rache gegangen sei. Dass er Herman dafür gehasst habe, dass er sich als Opfer bezeichnen durfte – wie all die, zu deren Deportation sein Vater beigetragen hatte. Und für die Demütigungen, unter denen er nach dem Krieg wegen seines Vaters zu leiden hatte. Und dafür, dass er von seinem Vater geschlagen worden sei.
»Er hasste die Juden, weil sie ihn an die Schläge seines Vaters erinnerten!«, ruft sie.
»Na, na«, beschwichtige ich. »So weit wird es doch wohl nicht gehen!«
Aber meine Mutter ist jetzt in Fahrt.
»Und dein Vater! Dein Vater hatte doch keine Ahnung«, sagt sie. »Der ließ ihn den Wintergarten machen, um ihm eine Chance zu geben, dem Sohn eines NSB lers! Redete mit ihm, wie Herman eben mit Leuten redete, freundlich, gesellig, na ja, anfangs jedenfalls. Und das hat Raaijmakers wahrscheinlich umso mehr gefuchst, dass er so freundlich war. Der war erst zufrieden, als dein Vater ungehalten wurde! Und dann kamen die Konsequenzen.«
»Herman gewinnt den Prozess, Raaijmakers verliert seinen Betrieb!«, ergänze ich.
»Genau«, sagt meine Mutter. »Er ging pleite! Und Gott weiß, was dadurch noch alles in die Binsen ging… Vielleicht hat er ja auch sein Haus verloren, wer weiß?«
»Und da war er frei«, sage ich. »Da durfte er sich endlich mit seinem Vater identifizieren.«
All diese Samstage. Warum hatte mein Vater nach all den bösen Briefen und dem endlosen juristischen Hickhack an so vielen Samstagen heimlich mit seinem Widersacher geredet?
Ich erwäge, meiner Mutter jetzt alles zu erzählen. Aber das wäre zu viel, das würde sie nicht verkraften, die Vergewaltigung, die Beteiligung am
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