Der Sohn (German Edition)
kleinen Platz mit zwei Wipphühnern, und bespähe ihn mit meinem Opernglas.
Ich notiere Straße und Hausnummer auf einem Zettel und warte eine volle Stunde lang. Fast wäre ich eingeschlafen, aber das Grüppchen jugendlicher Marokkaner, das sich in der Nähe von meinem Parkplatz postiert hat, um einen Joint zu rauchen und allerlei für mich Unsichtbares hin- und hergehen zu lassen, hindert mich daran. Mit ihnen als Zuschauern wage ich auch nicht wegzufahren.
Raaijmakers taucht nicht wieder auf. Ich sehe im Obergeschoss des Hauses unverkennbar Licht durch die Holzbretter sickern und entscheide, dass dies dann wohl sein neues Zuhause sein muss. Oder handelt es sich nur um ein Diebesnest?
Nach einer Weile verziehen sich die Marokkaner, und ich fahre vorsichtig los. Dabei schaue ich immer wieder in den Rückspiegel, wie im Film, als müsste ich mich davon überzeugen, dass mir niemand folgt.
120
Alle sind böse auf mich, als ich zurückkomme. Sie hätten nicht gewusst, wo ich sei, und ich hätte mein Handy ausgeschaltet.
Natürlich hatte ich es ausgeschaltet – ich hatte ja eine Heidenangst, dass durch das Handyklingeln womöglich jemand auf mich aufmerksam werden könnte.
»Sorry«, sage ich schuldbewusst, aber nach meinen Abenteuern bin ich noch viel zu aufgekratzt, um mich wirklich in die Ängste der Daheimgebliebenen hineinversetzen zu können. Auch Jacob habe angerufen, sagt meine Mutter vorwurfsvoll. Tess ist so wütend, dass sie mich beschimpft: »Bescheuerte Egoistin!«
Als wenn ich die Einzige wäre, die etwas mitgemacht hätte! Das schreit sie, bevor sie in hysterisches Weinen ausbricht, nach oben stürzt und die Tür hinter sich zuschlägt. Ohne zu wissen, was ich zur Erklärung anführen könnte, laufe ich ihr erschrocken nach, auf der Stelle geheilt von meinem Spionagefieber.
121
Tess sitzt verheult auf dem Bett meiner Mutter und guckt Fernsehen. In Bitte fahnden! wird heute unser Fall behandelt. Wie konnte ich das vergessen? In wenigen Minuten wird die ganze Geschichte dargelegt und um sachdienliche Hinweise zur Identifizierung und Ergreifung der Täter gebeten. Tess sieht sich das ganz still an, sie wirkt wie erstarrt. Ich will nach ihrer Hand fassen, doch sie zieht sie sofort zurück. Mir fällt auf, dass ihr Gesicht hochrot ist, wo sie doch in letzter Zeit immer so blass war.
»Tess«, sage ich, »hast du Fieber? Bist du krank? Du bist feuerrot! Die werden sie finden, lieber Schatz, das fühle ich, ich bin mir ganz sicher.«
Sie sieht mich nicht an. Blickt nur unverwandt auf den Bildschirm.
»Tess, bitte, was ist denn? Ich bin doch wieder da. Ich hätte anrufen sollen, ich weiß. Ist es das?«
Als sie mich ansieht, erschrecke ich, ihre Augen sind wie weggedriftet, sie scheint ganz woanders zu sein. Ein furchterregender Blick. Ich kenne sie nicht mehr, denke ich, und der Gedanke ist so grausig, dass es mir fast den Boden unter den Füßen wegreißt.
»Tess! Was ist, wo bist du? Sprich mit mir, bitte!«
Tess steht auf und geht aus dem Zimmer.
Ich bleibe auf dem Bett sitzen und rufe Jacob an. Auch er ist böse auf mich, weil ich nicht erreichbar war. Als ich ihm meine Geschichte erzähle, wird er sogar noch böser. Ob ich denn völlig verrückt geworden sei! Wie ich denn bloß derartige Risiken eingehen könne! Es hätte doch wer weiß was passieren können, wenn dieser Mann mich gesehen hätte, der sei doch zu allem imstande!
Ich versuche ihn zu beruhigen. Aber Jacob kann sich nur schwer abregen. Er meint, wir sollten vielleicht doch besser die Polizei einweihen.
Ich wende ein: »Ich musste einfach ein paar Dinge herausfinden! Verstehst du das denn nicht? Das wollten wir doch beide! Und nach wie vor gilt: Wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass Raaijmakers auch hinter dem Überfall auf unser Haus gesteckt hat, oder? Es ist zwar mehr als zufällig, dass dieser David für Raaijmakers gearbeitet hat und offenbar auch dasselbe Fitnesscenter besucht wie er, aber Raaijmakers war keiner von den beiden Männern in unserem Haus, Jacob!«
Während ich es sage, kommt mir eine Erinnerung, kaum greifbar, ein kurz aufblitzendes Bild von einer Szene direkt nach dem Überfall, Tess, die meine Fesseln löst. Ich habe etwas vergessen, aber ich weiß nicht, was.
Ich höre ein Hüsteln und gehe zur Tür, um nachzusehen, wer da ist. Tess steht an der Treppe, gebückt, als wolle sie etwas aufheben. Aber auf der Treppe liegt nichts. Da sehe ich, dass Tess ganz aufgewühlt ist, sie japst
Weitere Kostenlose Bücher