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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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richtig. Sie hat an der Tür gehorcht!
    »Jacob, ich ruf dich gleich zurück, okay?«
    »Nein, nicht okay!«, höre ich Jacob am anderen Ende der Leitung rufen, beende aber trotzdem das Gespräch.
    »Tess, was ist, sag mir, was los ist!«
    »Nichts«, sagt Tess zum hundertsten Mal.
    Ihr Blick ist scheu und so unglücklich und angstvoll, dass ich keinen Ärger mehr empfinde. Da ist nur noch überströmendes Mitleid.
    »Was denn, Tess, bitte, sag was!«
    Ich frage mich plötzlich, ob ich nicht auch die Karten auf den Tisch legen sollte. Warum erzähle ich ihr nicht einfach, was ich heute Abend gemacht habe?
    »Hör zu«, setze ich an, und da bricht Tess in lautloses Weinen aus. Ich erstarre vor Schreck, denn ich spüre, dass dies der entscheidende Moment ist, und ich habe Angst, ihn zu verderben, zu stören, ich muss ihr jetzt die Gelegenheit geben zu reden, sie kommt, ich fühle es, ich muss jetzt vorsichtig sein.
    Tess schaut mich an und sieht, dass ich gespannt auf die Geschichte warte, die sie nicht erzählt hat und die ich so gerne wissen möchte, die ich ihr aber natürlich nicht abverlangen kann, nicht unter diesen Umständen. Sie könne es nicht länger für sich behalten, sagt sie, immer wieder diese Geschichte von den zwei Männern, es gehe nicht, sie könne nicht mehr. Und dann sagt sie einen kleinen Satz, leise, nah an meinem Ohr, mit abgewandtem Gesicht.
    »Was?«, rufe ich.
    Mund zu, verschlossener Blick. Und weg ist sie. Natürlich ist da noch mehr, aber das habe ich jetzt verpatzt. Trotzdem hat sich auf einen Schlag alles geändert.
    Da ist Tess schon wieder, eines wolle sie noch loswerden. Endlich. Nervös, erwartungsvoll sehe ich sie an, strecke die Arme nach ihr aus.
    Wenn das, was sie sagt, auch nur das kleinste bisschen übertrieben oder dramatisch geklungen hätte, hätte ich es nicht ernst genommen.
    Sie sagt: »Wenn du es der Polizei verrätst, springe ich vom Dach.«
    Ich wusste es schon, ohne es noch zu wissen. Sie hatte es mir erzählt, als ich nicht zuhören konnte. Ich hatte es vergessen, aber jetzt höre ich es sie sagen.
    »Es waren nicht zwei. Da war noch ein dritter Mann.«

122
     
    Tess sitzt am Fenster und starrt nach draußen. Sie liest nicht, schaut sich keinen Film an – als reiste ich mit einer Kranken. Für Tess sind nur die Wolken in Ordnung, wir dürften inzwischen auf zehn Kilometer Höhe sein. Ortsveränderungen sind heilsam, denke und hoffe ich, weil man gedanklich Raum und Zeit gleichsetzt. Man macht dem Kopf etwas vor, wenn man sich räumlich verändert, und simuliert einen Zeitsprung, der in Wirklichkeit nicht stattfindet. Und heilt die Zeit nicht alle Wunden?
    Auch ich habe so etwas verspürt, fühlte mich regelrecht losgelöst, sowie das Flugzeug vom Boden abhob, und jetzt wünschte ich, ich könnte für immer durch die Luft schweben. Bei meinem derzeitigen Erdenleben tut Loslösung nur gut. Das gilt auch für Tess, wenngleich ich nicht weiß, wie ihr derzeitiges Leben aussieht oder woran sie denkt, wenn sie auf die Wolken blickt (beziehungsweise, woran sie nicht zu denken versucht).
    Leider ist mir nur allzu klar, dass die vermeintliche Loslösung ein doppelbödiges Spiel ist, denn in San Diego werde ich in einer Wirklichkeit landen, die ich mir nicht selbst ausgesucht habe.
    Schon wenn ich den Namen dieser Stadt höre, denke ich an Gefahr – dort rüstet sich Mitch für einen Schritt, den ich nicht fassen kann. Brainwashed, dazu ausgebildet, als Soldat für »sein« Land zu kämpfen, imstande und bereit zu töten, um zu verteidigen, was er wichtig zu finden hat. Werde ich ihn noch kennen?
    Das Tageslicht am Ende einer Reise, die für uns eigentlich in die Nacht führte, ist hart und weiß und voller Leben. Bei der Landung überkommt mich ein unerwartetes Glücksgefühl, als ich mir vergegenwärtige, dass die Basis, auf der Mitch in den vergangenen Monaten gedrillt wurde, direkt hinter dem Zaun des Flughafengeländes liegt. Wir sind jetzt so nah bei ihm, dass wir bequem zu ihm hingehen könnten. Verrückt, dass Mitch sich hinter diesen Zäunen, diesem Tor auf den Abschluss seiner Grundausbildung vorbereitet, der übermorgen formell mit seiner Graduation besiegelt wird. Und morgen, am Family Day, werden wir ihn sehen.
    Auch Tess’ Gesicht scheint sich aufzuhellen, als wir aus dem Flugzeug steigen. Jetzt schon verbindet sich mit Mitch der neue Status als Marine, als einer von The Few. The Proud, wie ein neuer Name, eine neue Identität. Für uns in unserer

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