Der Sohn (German Edition)
angeschlagenen Verfassung ist er damit nicht mehr Bruder oder Sohn, sondern der, der uns retten wird, unsere Zuflucht. Fast so wie mein Vater früher.
Komisch, denke ich, aus genau dem Grund hatte mein Vater unwillkürlich Probleme damit, dass Mitch als Baby meine ganze Aufmerksamkeit bekam: aus dem Gefühl heraus, dass ein anderer an seine Stelle getreten war, dass er nicht mehr die ausschließliche Rolle in meinem Leben spielte, nicht mehr unverzichtbar war. Dass er eifersüchtig war, konnte ich damals kaum glauben – und ich nahm es ihm übel. Ich fand das lächerlich. Aber letztlich hat er die Verlagerung meiner Aufmerksamkeit richtig eingeschätzt. Mitch hat einen Teil seines Platzes eingenommen – wenn er dadurch auch keineswegs benachteiligt wurde und überdies einen Enkel dazubekam. Dieser Zugewinn machte für ihn alles wett. Manchmal denke ich sogar, dass Mitch und er mehr miteinander gemein hatten, als er und ich jemals gemein haben können.
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Wir haben Jeans und Sneakers angezogen, und in meiner Tasche steckt eine ganze Box Papiertücher. Die Kamera ist aufgeladen. Sieben Uhr morgens ist nicht früh für uns, wir konnten schon um fünf nicht mehr im Bett liegen bleiben. Wir sind beide ruhelos, und Tess sieht trotz ihrer Schlafäuglein energiegeladener aus als in der gesamten letzten Woche. Mitch und sie haben eine Beziehung zueinander, wie ich sie zu Tara nie hatte. Sie haben sich von jeher gegenseitig gestützt und mehr voneinander gewusst, als Jacob und ich je zu hören bekamen.
Für Tess kam Mitchs Umzug nach Amerika im vergangenen Jahr einer Amputation gleich. Er hat ihr unheimlich gefehlt. Ist ja auch eine Wucht, einen Bruder wie Mitch zu haben, sechs Jahre älter, gutaussehend und draufgängerisch, der sie zudem wirklich gern hat. Wenn ich sehe, wie sorgfältig Tess sich die Augen schminkt und die Haare kämmt, dass sie ihre coolste Jeans mit einem tief ausgeschnittenen weißen Top dazu angezogen hat, dass sie sich zum ersten Mal seit dem Überfall wieder hübsch macht, tut mir das Herz weh vor Rührung.
Sie macht sich schön für ihn, das versteht sich, aber vielleicht denkt sie dabei auch an seine taffen Freunde, die ihn zu einer so hübschen Schwester beglückwünschen werden. Das dürfte Mitchs Ansehen unter seinen Freunden guttun, vermutet sie wohl, und dafür wird er ihr dann wiederum dankbar sein.
Sie schaut kurz in den Spiegel, fängt meinen Blick auf, und sofort stürzt ihre Fassade ein, wie ich zu meinem Schrecken mit ansehe. Sie dreht sich von mir weg, fischt ein unförmiges, verwaschenes schwarzes Shirt aus dem Koffer, das Mitch gehört hat, und zieht es über das enge Top. Auch das Haarband nimmt sie ab. Sie sieht mich nicht an, als wir das Hotelzimmer verlassen.
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Wie oft und auf wie viele Arten ich es auch versucht habe, Tess will (oder kann) den dritten Mann nicht näher beschreiben. Sie habe ihn nicht gesehen, sagt sie. Ich, lieb und leise: »Sprich dich doch aus, mein Mädchen.« Drängend und voller Überzeugungskraft (wie scheinheilig!): »Denk doch an mögliche weitere Opfer, die du vor ihm bewahren kannst, wenn du jetzt redest!« Wütend: »Himmelherrgott, Tess, ich will dir doch helfen!«
Sie ist mittlerweile versiert darin, so zu tun, als höre und sehe sie mich gar nicht, oder zu demonstrieren, dass man ihr das letzte bisschen ihrer ohnehin schon geringen Energie raube.
Aber das alles ist vorübergehend vergessen, als wir an diesem Morgen Mitchs Platoon, seinem Zug, beim rituellen Motivational Run zusehen und ich Mitchs Kopf unter den anderen kurzrasierten Schädeln entdecke.
Ihre Gesichter sind hager geworden, auch das von Mitch, wie ich sehe, als er an uns vorüberkommt. Ein schwer zu beschreibendes Gefühl. Ein entfremdender Moment. Ich verstehe einfach nicht, was mein Kind, Mitglied unserer kleinen, einsamen Familie, Sohn von Jacob, Enkel von Iezebel und Herman, Urenkel von Zewa und Izak Silverstein (Iezebels Eltern, sanftmütige Buchhändler, zähle ich der Einfachheit halber nicht mit), unter all diesen entschlossenen jungen Soldaten verloren hat.
Trotzdem tun wir, was hier jeder für seinen Rekruten tut: Wir brüllen Mitchs Namen, so laut wir können. Mitch läuft genauso aufrecht, genauso stolz und selbstbewusst wie alle anderen. Zu sagen, dass wir gerührt sind, wäre untertrieben. Tess brüllt Mitchs Namen so laut und oft, dass sogar Leute, die selbst auch ihrem Rekruten zujubeln, sich verwundert zu uns umdrehen. Es kümmert uns nicht, wir
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