Der Sohn (German Edition)
sind so froh, ihn zu sehen, so stolz auf sein Durchhaltevermögen, seine Erscheinung, seine Fitness. Dass er diesem lächerlich motivierten Team angehört, bleibt trotzdem eine Quelle der Verwunderung – und der Angst und Beunruhigung.
Ich habe in diesen Monaten öfter die Site der Marine -Mütter angeklickt und war immer wieder ergriffen von der angestrengten Religiosität, mit der sie ihre Ängste zu beschwören und sich Mut zu machen suchen. Aus jedem Einzelnen ihrer wackeren Sätze über »ihren« Rekruten, »ihren« Marine waren Aufgewühltheit und Panik zu lesen.
»Mitch!«, brüllen wir unserem atypisch wohlerzogenen Marine zu, und dann fangen wir endlich seine Aufmerksamkeit ein, kurz und intensiv ist sein Blick zur Seite, seine Augen leuchten auf, und dann stampft er weiter.
Er reagiert nicht anders als alle anderen Jungs, auch äußerlich ist er kaum von ihnen zu unterscheiden – und genau das macht es so herzzerreißend: zu wissen, dass sich unter all dieser Uniformität so viel Unterschiedliches verbirgt. Da geht kein Soldat, kein Marine, da geht Mitch in Verkleidung, das ist Mitch in militärischem Outfit, mit Stoppelschnitt, mit sichtbar gewordenen Muskeln, Muskeln, die ich bei ihm noch nie gesehen habe, Mitch mit gefurchter Stirn und einem besessenen Blick, den ich nicht kenne.
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Absperrungen schränken die Sicht ein, und die Sonne ist grell. Um uns zig Opas, Omas, Mütter, Väter, Geschwister, Babys, Kleinkinder. Es wird gefilmt, fotografiert, mit US -Fähnchen geschwenkt, es herrscht Feststimmung, und es wird viel gelacht.
Ich bin so müde von dem Tumult in meinem Kopf, von der Verwüstung, die in unserem Leben angerichtet worden ist, dass ich nicht mehr weiß, was ich empfinden soll. Ob es durch den aggressiven Ton der Befehle kommt oder die überall sichtbaren Gewehre, keine Ahnung, aber selbst in diesem Moment werde ich noch hin- und hergezogen zwischen der Szenerie hier und der jener Nacht, die ich so gern vergessen möchte. Ich habe sogar noch den ekelhaften Schweißgeruch von diesem unbekannten Sturmhaubenträger, diesem Mann ohne Gesicht, in der Nase. Ganz kurz lasse ich die Panik zu, die Angst, dass ich alles verliere, Mitch, Jacob, Tess, und fühle mich innerlich zerschmettert von der Erkenntnis, dass die Haltbarkeit unserer Existenz begrenzt ist.
Der trommelnde Laufschritt der Rekruten ist nicht die Antwort, die ich suche, so hart und ohne Ironie. Mir bricht der Angstschweiß aus. Sind diese Drill Instructors denn verrückt geworden, meinen Sohn und seine Kumpel derart anzubrüllen? Es kommt gar nicht in Frage, dass mein Sohn sich diesem idiotischen Clan anschließt, er kommt nicht mit, er wird zu Hause gebraucht, ich kann nicht auf ihn verzichten. Der Gehorsam dieser Jungs, die Einhaltung der knallharten militärischen Disziplin, die angeblich so heilsam und charakterbildend sein soll, erscheinen mir, da ich nun so aus der Nähe mit dem Marschieren, Salutieren, Stillgestanden und Hackenzusammenschlagen konfrontiert werde, vor allem lächerlich aggressiv, beklemmend, pathetisch.
Ich sehe meine Hände zittern, so sehr, dass ich es nicht beherrschen kann, und höre Tess’ Stimme in meinem Ohr: »Nicht zittern, Mama!«
Ich fasse ihre Hände und bringe die meinen damit zur Ruhe.
Ich schmatze Tess einen Kuss auf die Wange, salzig und nass, den sie diesmal nicht abwehrt, und hoffe inständig, dass Mitch meinen gequälten Gesichtsausdruck nicht bemerkt hat.
Die schlichte Begleitmusik der Militärkapelle ist festlich-beschwingt, aber selbst das kann mich nicht aufheitern. Im Anschluss an den Motivational Run gehen Tess und ich mit allen anderen Angehörigen in das ›Depot Theater‹, wo ein Film über den wöchentlichen Ablauf des Boot Camp gezeigt wird.
Wir sehen ihn uns an, obwohl ich solche Filme schon hundertmal im Internet gesehen habe.
»Ich hab Hunger«, sagt Tess zwischendrin. »Ich kapier das alles sowieso nicht. Wie kann Mitch das bloß gut finden, diesen ganzen Zwang und diese Bosheit? Und alles sieht so hässlich aus, so schrecklich kahl. Und dann diese grässliche Schreierei.«
Bei jedem Brüllen und Schnauzen der Drill Instructors denke ich an Mitch. Als von täglich mit Marschgepäck zurückgelegten zwanzig Meilen die Rede ist, sehe ich Mitch dort marschieren. Als es um die Proviantreduktion geht (bei den schwersten Trainings!) und den häufigen, organisierten Schlafentzug (in den ersten drei Tagen überhaupt kein Schlaf, dafür eine permanente Flut von direkt
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