Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
ihn vollkommen bewegungsunfähig.
»Rutsch rüber«, sagt Claire an der offenen Fahrertür und entfernt erst einmal die Kinder. »Ich fahre.«
Gegen Mittag erreichen sie die Twelve Bens, die Gebirgskette, die sich aus einem Waldsaum erhebt und deren elefantengraue Flanken sich im Wasser des Landsees spiegeln. Sogar Vita ist von dem düsteren Anblick beeindruckt. Kurz vor Roundstone biegt Claire auf Grettas Geheiß rechts ab, und es geht nur noch über eine Schotterpiste.
»Schmeißt mich hier raus«, sagt Gretta an einer kleinen Kreuzung mit Eichenhain.
»Aber wieso?«, sagt Monica und lehnt sich nach vorn. »Wir können dich doch nicht hierlassen.«
»Das Kloster ist da oben.« Gretta deutet mit dem Taschentuch nach draußen. Sie kramt in ihrer Handtasche, bis sie, scheinbar zufällig, ein Tablettenfläschchen in der Hand hält und eine Tablette einwirft. Der Vorgang wiederholt sich mit einem zweiten Fläschchen, nur dass sie daraus zwei Tabletten nimmt. Sie zerkaut die Tabletten und zieht ein Gesicht. »Ich gehe allein.«
Monica widerspricht, auch Michael Francis äußert die Meinung, sie sollten alle zusammenbleiben, dringt aber nicht durch. Claire gibt an jedes Kind einen Keks aus, und Aoife steigt aus dem Wagen.
»Wohin gehst du?«, fragt Michael Francis im selben Mo ment, als Hughie sich freut: »Kotzt sie jetzt wieder?«
»Nee, ich muss nur mal Pipi machen«, sagt Aoife nach hinten und verschwindet im Unterholz.
Gretta bleibt hart. Sie schnappt sich ihre Handtasche, dazu Kopftuch, Pillen und Taschentuch, steigt aus und setzt sich auf der Schotterpiste in Bewegung. »In zwei Stunden bin ich wieder da«, sagt sie. Nur einmal bleibt sie stehen, und zwar als Aoife, die Hand noch am Reißverschluss, hinter einem Baum hervorkommt. Sie schauen sich kurz an, dann walzt Gretta los und ist bald hinter einer Biegung verschwunden.
Aoife steigt wieder zu.
Vita, die auf Claires Knie reitet, beugt sich nach vorn und sieht ihrer Tante ins Gesicht, dieser faszinierenden Reihertante, die aus dem Nichts in ihr Leben getreten ist und ein Top mit lauter Flamingos anhat. Vita würde gern ihren Arm ablecken, um zu sehen, wie gebräunte Haut schmeckt, und um einmal diese winzigen Härchen auf der Zunge zu spüren. Sie meint, das Braun schmeckt nach Honig, während die Sommersprossen eher den Geschmack von Pfeffer haben. Ehe einer eingreifen kann, fährt sie mit der Zunge über den Arm ihrer Tante.
Aoife fährt herum, und ihre Blicke treffen sich. »Sag mal, hast du mich gerade abgeleckt?«
»Nö«, sagt Vita, obwohl ihr die Zunge noch aus dem Mund hängt. »Ist es jetzt besser?«
»Besser.« Sie sieht das Kind weiter an und sagt leise: »Ich habe auch eine Idee, was wir machen können, solange Oma weg ist.«
Vita greift den verschwörerischen Ton sofort auf. »Ja? Was?«
»Wir gehen schwimmen.«
Sie parken den Wagen an der Mannin Bay. Kaum geht die Wagentür auf, laufen die Kinder los, wie Windhunde aus der Startbox. Sie rennen in Kreisen, im Zickzack, Hughie wedelt triumphierend mit Seegras, und Vita läuft ans Wasser, wo kleine Wellen über dem silbrigen Sand zusammenlaufen.
Monica zieht sich den Rock straff, setzt sich auf einen Felsen und lässt Sand durch die Finger rinnen, bis ausgebleichte Muscheltrümmer darin hängenbleiben, die an die Knochen von Kleinstlebewesen erinnern. Allein die Berührung ist für sie so vertraut wie Glockengeläut aus ihrer Kindheit. So schlicht diese Geste ist, mit der Hand im Sand zu graben, sie umfasst alle Sommer von damals. Als sie den ganzen Tag am Strand herumrannten, nur im Badeanzug und in einem Aran-Pulli. Natürlich war Michael Francis mit seinen langen Beinen immer der Schnellste, sie sieht noch seine rosigen, sandpanierten Füße vor sich. Oder die Ausritte auf dem Esel ihrer Großmutter. Selbst wenn es regnete, war es nicht schlimm, denn der irische Sommerregen war so sanft, so warm und rein, ganz anders als in London. Oder Torfstechen mit ihrem Onkel und ihrer Mutter. Sie sieht das alles noch vor sich, den langen Torfspaten ihres Onkels, die roten Arme ihrer Mutter, wenn sie die Wäsche aus dem Zuber holte und auswrang, die Hühner, die ihr um die Füße liefen und im Sand pickten.
Sie blickt auf und sieht ihren Bruder, ihre Schwägerin und die anderen als dunkle Silhouetten vor der gleißenden See. Und Aoife, die bedenkenlose Elfe, die sich zum kreischenden Vergnügen der Kinder, einfach die Klamotten vom Leib reißt.
Sie schaut auf die Ausbeute in ihrer Hand,
Weitere Kostenlose Bücher