Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Filmschachteln auf den Tisch und sortiert sie in die jeweiligen Fächer.
Seit ihrem ersten Tag bei Evelyn – Monate sind inzwischen vergangen – ist der blaue Schnellhefter im Karton auf dem Aktenschrank gehörig angeschwollen. Denn jeder Fetzen Papier, der in ihre Hände gelangt, seien es Briefe, Anfragen, Bewerbungen oder Verträge, landet da. Alles mit Zahlen oder Dollarzeichen wie Schecks oder Rechnungen leitet sie sofort an die Buchführung weiter, so weiß sie, dass zumindest der Zahlungsverkehr des Studios ordentlich abgewickelt wird. Alles andere jedoch verschwindet in der blauen Aktenmappe. Für später. Wenn sie dazu in der Lage ist. Sobald sie weiß, wie sie es anstellen soll. Dass dieser Tag kommt, steht für sie außer Zweifel. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie die blaue Aktenmappe hervorholt. Sie wird sie noch abarbeiten, die blaue Aktenmappe, die schon aus allen Nähten platzt. Irgendwie jedenfalls.
Schachtel für Schachtel ordnet sie in die Fächer ein. »Wie sind sie geworden?«, ruft sie.
Evelyn erscheint im Türrahmen. Eine hochgewachsene Frau, bestimmt dreißig Zentimeter größer als die kleine Aoife. Die nerzgrauen Haare hat sie zurückgebunden und, wie Aoife scheint, mit einer Art Kabelbinder fixiert. Das Hemd, das sie trägt, sieht aus wie ein abgelegtes Stück von ihrem Mann, vorn hängen ein paar Wäscheklammern. Sie hat die langen, sehnigen Arme vor der Brust verschränkt und brummt mit ihrer Kettenraucherstimme: »Also ich weiß nicht … sie sind etwas körnig herausgekommen.«
Aoife sieht sie an. »Aber körnig ist doch … ist doch gut, kann doch gut sein, nicht?«, sagt sie vorsichtig. Bei Evelyn weiß man nie, ob ausdrückliche moralische Unterstützung gerade erwünscht ist oder ob stillschweigendes Einvernehmen reicht.
»Nicht direkt körnig«, sagt sie und wischt mit der Hand über das obere Regal, bis sie gegen eine Kiste Glühbirnen stößt und das Gesicht verzieht. »Kontrastarm eher.«
»Kontrastarm?«
»Körnig-kontrastarm.«
Aoife räumt den letzten Film ein.
»Hast du eigentlich dieser Zeitschrift den Vertrag zurückgeschickt?«, fragt Evelyn überraschend.
Die kleine Schachtel ist so glatt, dass sie ihr aus der Hand rutscht, wie magnetisch angezogen vom Fußboden. »Ich … äh«, bringt sie hervor, während sie den Film auf den Fliesen einsammelt. »Aber ja … der ist raus.«
»Seltsam«, murmelt Evelyn am Fenster. »Sie haben nämlich vorhin angerufen, weil sie noch nichts bekommen haben, aber wenn du …«
»Sie müssen bald los«, unterbricht sie Aoife.
Evelyn dreht sich um: »Wieso? Wohin?«
»Sie sind doch in der Stadt zum Mittagessen verabredet, in zwanzig Minuten.«
»Ach ja, das Mittagessen mit diesem … Dingsbums, richtig.«
»Dingsbums?« Aoife hebt eine Braue, Evelyns katastrophales Namensgedächtnis ist bei ihnen ein Dauerwitz.
»Wie hieß er noch gleich? Dan? Bob? Nein … Paul!«, sagt Evelyn und fischt eine halbgerauchte Zigarette aus der Hemdtasche. »Aber wie weiter? Paul … ah!«, sagt sie und wedelt triumphierend mit der bröselnden Zigarette. »Allanson. Paul Allanson.«
»Warm«, sagt Aoife und zeigt auf die Wäscheklammern an Evelyns Hemd. »Allan Paulson, Kurator des MoMA.« Evelyn tritt vor, hebt die Arme und lässt sich von Aoife die Wäscheklammern entfernen. »Aber bestehen Sie auf einem guten Restaurant.«
»Ich lass dir die Reste einpacken, ich kriege in diesen noblen Läden sowieso nichts runter.«
»Danke.« Aoife löst jetzt auch den Kabelbinder. »Soll ich Sie noch zum Taxi bringen?«
Evelyn schüttelt den Kopf. »Nein, das schaffe ich noch gerade selbst. »Du kümmerst dich weiter um die …« Sie deutet mit dem Kopf auf die Dunkelkammer. »Und vergiss nicht, auch die …« Vage Geste. »Egal, du weißt ja, was du zu tun hast. Ach ja, und einkaufen könntest du auch, der Kühlschrank ist praktisch leer. Nimm Geld mit.«
»Keine Sorge«, sagt Aoife und folgt ihr bis zur Tür, wo sie ihr erst die Jacke und dann die Umhängetasche reicht.
Am Treppenabsatz bleibt Evelyn noch einmal stehen und fasst sich an den Kopf. »Herrje, das hätte ich fast vergessen. Da sind noch ein paar Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Dieser – wie hieß er gleich? – hat noch einmal angerufen, dieser Kochmensch. Sagte, er wäre in der Stadt. Weißt du was? Fahr nach Hause, dann habt ihr Zeit, euch zu treffen. Alles andere kann warten.« Langsam geht sie die Treppe hinunter und murmelt: »Warum vergesse ich eigentlich immer
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