Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
sie Farbtuben gerade ausrichtete, Pinsel nach Größe sortierte und die Vitrinen wienerte, bis sie sich darin spiegeln konnte – und überrascht war, wie ernst sie immer aussah.
Sie kam zurecht, das heißt, sie kriegte ihr Leben auf die Reihe. Vor allem aber ging es darum, dass sie sich weiterhin irgendwie durchschlängelte. Bisher war ihr noch niemand dahintergekommen. Jeden Abend, wenn sie ins Bett ging, schloss sie erleichtert die Augen in dem Bewusstsein, dass sie auch an diesem Tag nicht aufgeflogen war.
Zu diesem Zweck verfügt sie über ein ganzes Arsenal bewährter Methoden, ihre Probleme mit dem gedruckten Wort zu verschleiern. Mal sagt sie, sie habe ihre Brille vergessen, ein andermal schiebt sie es auf ihre müden Augen. In einem Restaurant oder Diner klappt sie die Speisekarte zu (nicht zu schnell, niemals zu schnell) und wendet sich mit einem selbstbewussten Halblächeln an ihre Begleitung und sagt: Ach, bestell du doch für mich. Sie hat ein Auge für Menschen, die sich gern als Schnellschreiber hervortun oder mit ihrer Handschrift angeben oder nur zu gerne und mit wichtiger Gebärde eine Seite füllen. Die fragt sie so beiläufig wie möglich: Kannst du das mal für mich ausfüllen, meine Klaue kann niemand lesen, das sagt jeder. Ebenso macht sie es mit Zeitungen oder Büchern: Ach, könntest du mir das mal kurz vorlesen? Wobei sie ihren inneren Rekorder einschaltet und wie ein Stenograph jede Silbe in ihrem Kopf aufzeichnet. Sollte später jemand fragen, kann sie das Gehörte selbst nach längerer Zeit noch wortgetreu wiedergeben. An ihrem ersten Abend an der Bar musste ihr der Barmann sämtliche Flaschenetiketten vorlesen, die sie memorierte wie ein Stundengebet, bis sie sie vorwärts und rückwärts kannte und selbst im Dunkeln gefunden hätte. Die Flasche ganz links, das ist schottischer Whisky, dann kommt Bourbon, dann kommt Gin, dann kommt Rum, dann Wodka. Niemand findet auf die Weise ihr Geheimnis heraus. Denn das ist das große Ziel, dem jeder Augenblick ihres Lebens gewidmet ist: Sie darf nicht auffliegen. Sie weiß, dass sie nach außen hin manchmal etwas seltsam wirkt, aber eben sonst ganz nett ist. Übervorsichtig, könnte man sagen. Und gleichzeitig nicht ganz bei der Sache. Genaueres weiß niemand. Niemand merkt ihre Anspannung, wenn sie jemanden bitten muss, für sie zu bestellen. Niemand merkt, wie sich ihr Kiefer verkrampft, wenn sie vor dem Flaschenhalter der Bar steht. Lauter kopfstehende Flaschen, jede hat einen eigenen Namen. Und die Zyklopenaugen der Dosierer beobachten sie genau. Ist heute der Tag, an dem sie auffliegt?
Dass sie nicht lesen kann, ist ihr Geheimnis. Und der Grund für ihr Doppelleben. Die Tatsache des Nicht-lesen-Könnens durchdringt sie bis in die letzte Faser und bestimmt, was sie ist, für alle Zeiten, aber das weiß eben nur sie, niemand sonst. Freunde, Bekannte, Kollegen, sogar ihre Familie (die zu allerletzt) – niemand weiß davon. Sie hat dieses Geheimnis nun schon so lange vor ihnen verborgen, dass sie sich an nichts anderes mehr erinnern kann.
Aber nach sechs Monaten in New York, vielleicht sogar einem Jahr, wird sie nachlässig. In dem Geschäft für Künstlerbedarf hat sie hauptsächlich Malblöcke einzuräumen, da vergisst man die Gefahr. Erst recht, wenn man bis vier Uhr früh im Club gearbeitet hat. So war es auch an dem Tag, an dem Evelyn Nemetov vor dem Schaufenster stand, dessen Schriftzug von Aoifes Position aus Folgendes sagte: KCATTA TRA . Manchmal auch KCATTATRA oder KCATARACT oder RATATATTAT . Aoife erkannte sie sofort, denn sie war in London schon mehrmals in einer Ausstellung von ihr gewesen. Und jetzt stand Evelyn Nemetov auf einem Bürgersteig in New York, trug einen Regenmantel, der ihr etliche Nummern zu groß war, und hatte den breitkrempigen Baumwollhut tief in die Stirn gezogen. Sie stand da, die Hände in den Hosentaschen vergraben, ein Mensch wie ich und du. Für Aoife war das in etwa so, als sei eine griechische Göttin hier auf die 52. Straße hinabgestiegen, um den Sterblichen einen kurzen Besuch abzustatten und anschließend wieder in körperlose Göttlichkeit zu entschwinden. Da setzte Aoife auf der anderen Seite des Schaufensters ihre ganze Willenskraft ein, auf dass diese Kraft Evelyn Nemetov zwang, hereinzukommen, die Tür aufzumachen und den Laden zu betreten. Was sie kurz darauf sogar tat. Und nicht nur das, sie ging sogar direkt auf Aoife zu und sagte: Haben Sie Klebeband? Aber nicht irgendein Klebeband, sondern
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