Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Liste der Dinge, bei denen sie versagte, erschien ihr endlos. Sie traf keinen Ball und fing auch keinen, sie konnte keine Rechtschreibung, sie konnte kein Instrument, sie traf keinen Ton, sie konnte nicht mit anderen Leuten, sie fiel immer auf, aber nicht positiv, sondern als anders und seltsam. Sie konnte Kindern nicht einmal aus der Bibel vorlesen und würde es auch nie können.
Gretta aber war ganz aus dem Häuschen angesichts solcher Aussichten. Aoife hörte, wie ihre Mutter jemandem am Telefon davon erzählte. Dass sie schon Angst gehabt hätte, aus Aoife würde nie etwas werden, doch mit ihrem Engagement in der Sonntagsschule eröffneten sich für Aoife viele neue Möglichkeiten. Zum Beispiel ein guter Job.
Man stelle sich daher das Theater vor, als Aoife eines Abends beim Abendessen verkündete (Monica und Joe waren da, Michael Francis fehlte), dass ihr die Sonntagsschule gestohlen bleiben könne und dass sie das auch schon dem Pfarrer mitgeteilt habe: dass sie das einfach nicht machen würde. Und sie wolle auch keine Lehrerin werden, sie habe keine Ahnung von Kindern, sie könne sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen als das.
Dies alles mündete dann in einen größeren Familienkrach, in dessen Verlauf Gretta eine Spinatschüssel auf den Bo den knallte. Sie stritt das später zwar ab, sagte, die Schüssel sei ihr bloß aus der Hand gerutscht, doch wie auch immer, der Spinat klatschte auf den Teppich, und noch Jahre später war dort der grüne Fleck zu sehen, in der Familie bald der »Sonntagsschulfladen« genannt. Gretta sagte, sie überlebe die Schande nicht und dass Aoife noch einmal ihr Tod wäre. Trotzdem musste sie sich eingestehen, dass sie mit ihrem Latein am Ende war.
Kurz darauf verließ Aoife ein für alle Mal das Haus. Sie ging einfach. Es war ein Entschluss so ohne Umwege, dass sie sich später fragte, warum sie ihn nicht schon früher getroffen hatte. »Tschüs dann«, sagte sie, winkte ein letztes Mal von der Tür, trat dann hinaus ins Licht. Soweit es Aoife betraf, war die Gillerton Road damit abgehakt. Später hörten sie, sie sei in einem besetzten Haus in Kentish Town. Michael Francis wurde losgeschickt, um nachzusehen, und traf sie im Hinterzimmer eines Reihenhauses an. Dort saß sie im Schneidersitz auf einer Matratze, eine halbfertige Halskette in der Hand, und daneben hockte ein Mädchen mit einer Klampfe. In der verkommenen Hütte blühte der Schimmel auf schreiend orangefarbenen Tapeten, hinten im Garten grub ein bärtiger Mann die Erde um, und auf dem Herd saß ein Papagei. Michael Francis konnte der besorgten Gretta später nur so viel mitteilen: Aoife ging es gut. Gut, rief Gretta, was soll das heißen, gut? Bekommt sie genug zu essen? Mit wem wohnte sie zusammen? Sah sie vielleicht krank aus, unglücklich? Hatte sie Arbeit? Hatte sie sich das mit der Sonntagsschule mittlerweile anders überlegt? War sie anständig angezo gen? Waren da vielleicht auch Männer im Haus? Zu alledem konnte Michael Francis nur die Schulter zucken: Ja, Männer und Frauen wohnten auch da, und zwar jede Menge. Was sie wirklich wissen wollte, brachte Gretta allerdings nicht über die Lippen, nämlich: Teilte Aoife das Bett mit einem von diesen Männern? Was war noch, fragte sie, erzähl mir mehr. Worauf er Aoifes Frisur erwähnte, die sei jetzt ganz anders. Wieder hakte Gretta nach: Anders? Wie anders? Länger, sagte er, und deutete an, wie lang. Mit Glasperlen drin.
Die Glasperlen brachten das Fass zum Überlaufen. Man einigte sich darauf, dass Aoife auf die schiefe Bahn geraten war. Drogengerüchte, Männergeschichten machten die Runde. Und dass Aoife stempeln ginge. Einmal behauptete Monica sogar, eine Bekannte von einer Bekannten habe Aoife am Kanalufer gesehen, in Camden, wo sie auf einer ausgebreiteten Decke Patchwork-Taschen feilgeboten habe. Ein Umstand, der von Aoife weder bestätigt noch dementiert wurde. Jemand erzählte Michael Francis, er habe Aoife in einem Doppeldeckerbus gesehen, auf der King’s Road und in Begleitung eines Herrn in lila Schlaghosen, doch diese Information behielt er für sich. An manchen Sonntagen tauchte Aoife noch zum Mittagessen in der Gillerton Road auf, lächelte aber nur vielsagend auf Grettas Fragen, die das Thema Job, Lebensstil und Kleidung berührten – und legte sich stattdessen Kartoffeln nach.
In Wahrheit hatte sie sich fünf Jahre Zeit gegeben. Da sie nicht wusste, was sie eigentlich machen wollte, probierte sie alles aus, was sie vielleicht machen
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