Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
alles? Das muss doch nicht sein. Aber ich werde wohl alt, ich vergesse sogar grundlegende …«
Aoife kehrt in die Wohnung zurück und bleibt vor dem Atelier stehen. Sie ringt die Hände, bis die Knöchel weiß hervortreten, schließt die Augen, genau einen Herzschlag lang. Ein Herzschlag reicht aus, um das Blut aus der Kammer zu pumpen und neues anzusaugen. Eine weitere Galgenfrist. Fürs Erste ist sie aus dem Schneider, aber wie lange kann das noch gutgehen? Aus dem Schneider war ein Lieblingsausdruck ihrer Schwester.
Dann ist der Moment vorbei. Aoife schlägt die Augen auf, lässt ihre Hände los und geht in die Dunkelkammer, verschwindet dort wie ein Schauspieler hinter der Kulisse, wo sie von der Dunkelheit verschluckt wird.
Der Anrufbeantworter blinkt mit vier Nachrichten. Die erste ist von einem Zeitschriftenredakteur, die nächste von der Assistentin der Schauspielerin, die im nächsten Monat fotografiert werden soll. Dann ist da noch eine ziemlich lange Nachricht von Evelyns Mann, in der es aber nur um die neue Kaffeemaschine geht, ehe eine andere Stimme sich einschaltet: »Hallo, Aoife, ich bin’s, Gabe. Ich bin wieder im Lande, keine Ahnung, wie lang, aber ich dachte, ich frag mal. Hast du heute Nachmittag Zeit? Ich weiß, es kommt ein bisschen unvorbereitet, aber … wie gesagt … vielleicht können wir uns sehen. Du erreichst mich unter … Ach, ich sehe gerade, das geht ja gar nicht. Ich rufe dich in einer Stunde noch einmal an. Bis dann.«
Aoife nimmt den Hörer ab und lauscht in den Dauerton, legt wieder auf und versucht, ihr Herz zu ignorieren, das ihr bis in den Hals klopft. Sie drückt auf den blinkenden roten Knopf und geht zu den Negativstreifen, die an einer Wäscheleine hängen. Die Negative sind unruhig und rascheln wie Tiere, die die Nähe des Räubers spüren. Sie prüft am Rand, ob die Negative trocken sind und hält den Streifen gegen das Licht. Kleine Gespenster erscheinen im Rahmen, mit offenen weißen Mündern, blassen, gesträubten Haaren und einem Himmel im Hintergrund, der so düster ist wie am Tag des Jüngsten Gerichts.
Sie nimmt eine Schere vom Haken an der Wand (ihr Werk, obwohl der Umgang mit Hammer und Nagel nicht zu ihren Stärken zählt) und fängt an, die langen Filmstreifen in Abschnitte von je zehn Bildern zu schneiden, wobei ihre Lippen leise mitzählen.
Zählen erinnert sie immer daran, wie sie mit ihrer Mutter die Kirche geschmückt hat, meist vor großen Feiertagen wie Ostern oder Weihnachten oder Erntedank. Ihre Mutter ist am Altar, füttert die Vasen mit Lilien und Rosen und streicht das brettharte Altartuch glatt, das sie abends zuvor noch schwitzend und fluchend gestärkt und gebügelt hat. Aoifes Aufgabe war es, die Gesangbücher zu verteilen und bei der Gelegenheit auch die Sitzkissen gerade zu rücken. Dabei zählte sie sie immer durch. »Dreiunddreißig, vierunddreißig …« Leise bewegten sich ihre Lippen. »Fünfunddreißig, sechsunddreißig. Mammy, ich habe sechsunddreißig fertig.« Darauf ihre Mutter, ohne sich umzudrehen: »Gut machst du das, Aoife. Weiter so.«
Und Aoife macht weiter, genau wie damals mit den Gesangbüchern. Nach jedem zehnten Einzelbild kommt der Schnitt, und der Streifen wird vorsichtig auf seine Vorgänger gelegt, bis kleine Stapel entstehen.
All das, ihre Arbeit, die Wohnung, diese Stadt, was sie an Kleidung trägt, was sie tut, wer sie ist, das alles ist so weit von dem entfernt, wozu sie erzogen wurde, dass sie zuweilen selber lächeln muss. Jemand wie Evelyn passt so wenig zu ihrer Herkunft oder zu ihrer alten Klosterschule wie ein Flamingo auf eine Kuhweide.
Aoife verließ die Schule ohne Abschluss, die Nonnen beschrieben sie als »buchstäblich unbeschulbar«. Sie fiel durch jede Prüfung (außer in Kunst, wo es gerade so reichte), denn auf keinem Aufgabenblatt fand sich auch nur ein einziges Wort von ihr. Manche drehte sie nicht einmal um, sondern kritzelte nur die Ränder voll.
Der Gemeindepfarrer, dem Gretta dauernd mit der armen Aoife in den Ohren lag (Was soll ich mit dem Kind denn noch anstellen? Was soll aus ihr werden?) schlug vor, dass Aoife bei der Sonntagsschule mithalf. Sie suchten immer Leute, die Kindern aus der Bibel vorlasen und nachher mit ihnen die Bilder dazu malten. Vielleicht, so der Pfarrer, konnte Aoife diese Erfahrung später für sich nutzen und selber Lehrerin werden.
Als Gretta mit dieser frohen Botschaft nach Hause kam, saß Aoife in ihrem dunklen Zimmer und schaute aus dem Fenster. Die
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