Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
eins, das von vorne und hinten klebt. Ob Aoife verstehe, was sie meine, sie habe bisher nämlich nichts dergleichen entdecken können. Sie meinen ein beidseitig klebendes Band?, fragte Aoife und sprach zu ihr, als verstehe Evelyn Nemetov die Sprache der Sterblichen. Ja, antwortete diese, haben Sie so etwas? Ja, sagte Aoife und ging, um das Gewünschte zu holen. Als sie an der Kasse den Scanner auf das beidseitige Klebeband hielt und der Piepton ertönte, sah sie Evelyn Nemetov direkt an und fragte ebenso direkt: Können Sie eine Assistentin gebrauchen? Ich könnte das machen. Bitte, lassen Sie es mich versuchen. Geben Sie mir eine Chance, bitte.
Als sie damals in New York ankam, kannte sie niemanden und war besessen davon, Familien zu beobachten. Sie fühlte sich so kaputt wie die ganze Stadt, aber dann fand sie den Club, und dann begegnete sie Evelyn, und plötzlich war alles anders.
Aoife erreicht die oberste Etage des Gebäudes und holt den Schlüssel aus der Tasche. Sie stemmt sich gegen die schwere Tür und zieht die Tasche hinterher.
An dieser Stelle will sie eigentlich immer etwas rufen. Das macht man so, wenn man in eine Wohnung kommt, in der schon jemand ist, der vielleicht sogar auf einen wartet. Doch das verbietet sie sich, denn Evelyn mag es nicht laut. Sie erschreckt sich, und dann kann sie sich nicht mehr konzentrieren. Immerhin ist dies keine normale Wohnung.
In ihren viel zu großen Militärtretern geht sie weiter. Wenn es sein müsste, könnte sie dies auch mitten in der Nacht und bei Stromausfall tun. Sie kennt jede Ecke, weiß, wo alles ist, weiß, wo alles hingehört. Was immer gewünscht wird, sie findet es innerhalb von zwei Minuten. Schließlich ist das ihr Job. Eine ziemliche Herausforderung, denn Ordnung ist nicht gerade ihr Ding. Hätte man denen zu Hause erzählt, dass sie, Aoife, tatsächlich Ordnung halten konnte, sogar gut darin war und alles wiederfand, sie hätten den Mund nicht mehr zugekriegt. Aber die zu Hause wissen es nicht, und niemand wird es ihnen je erzählen.
»Bist du das?«, hört sie Evelyn undeutlich aus der Dunkelkammer.
»Ja«, sagt Aoife.
»Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr. Oder sie hätten dich entführt, die Wölfe hätten dich gefressen oder du wärst in einer Sekte gelandet.«
»So spannend war es nicht.«
»Du warst stundenlang weg.«
»Entschuldige«, sagt Aoife und legt ihre Hand kurz an die Tür zur Dunkelkammer. »Die U-Bahn ist eben nicht schneller, und überall muss man warten. Ich lege nur schnell die Filme weg, okay?«
Evelyn lebt schon ewig in der Wohnung eine Etage tiefer, die Wohnung im Obergeschoss ist ihr Atelier, auch ihr Rückzugsort. Aoife geht zu dem Zimmer, das ihnen als Lagerraum dient. Wo früher einmal das Kinderzimmer war, stehen heute Regale und Aktenschränke. Auf der Fensterseite erstrecken sich, vom Boden bis zur Decke und jeden Winkel ausfüllend, Sortierfächer. Und jedes Fach trägt ein Schildchen. Film SW steht auf einem, Film Farb auf einem anderen, dahinter kommen Filter, Objektivkappen, Ersatzgurte f. Kamera. Aoife braucht nicht mehr auf diese Schildchen zu gucken, die irgendeine Vorgängerin sauber getippt hat, sie weiß alles auswendig. Zu Hause auf ihrer zugeklappten Badewanne hat sie gleich zu Beginn einen Plan angefertigt, der mit Pfeilen und ungelenkem Gekrakel festhielt, wo was war. Das Resultat, für Normalmenschen unentzifferbar, hatte sie an ihren vibrierenden Kühlschrank geheftet, bis jedes Detail verinnerlicht war.
Auf der anderen Seite standen die Aktenschränke mit Evelyns Archiv. Kartons über Kartons mit Negativen und Kontaktabzügen. Schubladen mit Namenslisten. Alle, die sie je fotografiert hatte – und wo und was dafür bezahlt wurde und von wem. Ordnerweise Verträge und Steuerbescheide und Post von Fans und solchen, deren Bewunderung sich in Grenzen hielt.
Von dieser Seite des Zimmers hält sie sich fern. Was allerdings mit jedem Tag mehr zum Problem wird. Sie hat schon Alpträume von dieser Seite des Zimmers. Und selbst im Wachzustand, wenn sie nur Bienen auf Arme stempelt oder Whiskey Sours über den Tresen schiebt, springt sie unversehens diese lähmende Angst an.
Bisher ist sie nämlich davongekommen. Aber sie weiß, dass es nicht mehr lange gutgehen kann.
Sie hat andere Assistentinnen befragt, und die sagten ihr, dass sie überhaupt nichts anderes täten als Akten abzulegen, Verträge durchzusehen, Briefe und Rechnungen zu schreiben. Sie seien, klagten sie, im besten Fall
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